: Jugendstrafe für betrunkenen Skinhead
■ Türkischer Lehrer einer Kreuzberger Schulklasse in Marzahn zusammengeschlagen / Urteil ist „Gratwanderung“
Während seiner Haftzeit hätte der 20jährige Lars F. ausreichend Gelegenheit gehabt, sein Äußeres zu verändern. Aber als er gestern erneut als Angeklagter vor Gericht erschien, stellte er ganz unverhohlen zur Schau, wes Geistes Kind er noch immer ist: Die dunklen kurzgeschorenen Haare waren sauber gescheitelt, das schmale Oberlippenbärtchen akkurat geschnitten, nur der kleine Spitzbart am Kinn war eine eigene Kreation. „Er ist 1,74 Meter groß, an beiden Armen tätowiert und sieht aus wie ein nachgemachter Adolf“, verlas der Richter die Aussage eines Tatzeugen aus dem Polizeiprotokoll und stellte nach einem Blick in Richtung Anklagebank fest: „Das ist eine sehr präzise Beschreibung.“
Der aus Marzahn kommende berufslose Lars F. verbüßt seit Juni 1993 eine dreijährige Haftstrafe in der Jugendstrafanstalt Plötzensee. Gestern wurde er zu weiteren sechs Monaten wegen Körperverletzung verurteilt, weil er einen türkischen Lehrer zusammengeschlagen hatte. Die Tat geschah am 29. April 1993 gegen 14.45 Uhr am S-Bahnhof Ahrensfelde. Die deutschen und türkischen Schüler der 9. Klasse der Kreuzberger Ferdinand-Freiligrath-Oberschule hatten eine Realschule in Marzahn besucht und befanden sich mit ihren beiden Lehrern auf dem Heimweg. Auf dem Bahnsteig wurden sie von mehreren Skinheads angepöbelt, die zwei Hunde bei sich hatten: „Verpißt euch, ihr Türken.“
Der türkische Lehrer Sekim Ö. hatte mit einigen Schülerinnen die Nachhut der Klasse gebildet. Als Zeuge vor Gericht schilderte er gestern, daß zwei Skinheads mit drohend geschwungener Kette auf ihn zugekommen seien. Um Frieden zu stiften, habe er sich den beiden vorgestellt: „Ich bin der Lehrer der Gruppe.“ Statt einer Antwort habe der an den Armen tätowierte Skinhead ihm einen so heftigen Schlag auf den Mund verpaßt, daß er einen Zahn verloren habe. Sekim Ö. konnte nach dem Erlebnis wochenlang nicht arbeiten. „Ich habe das bis heute nicht verdaut“, gestand der seit 21 Jahren in Deutschland lebende Mann. Seit diesem Ereignis wisse er, was Angst sei.
Lars F. gestand die Tat mit den dürren Worten: „Ich war betrunken.“ Sosehr sich Jugendrichter Schmidt auch bemühte, etwas über die Beweggründe zu erfahren, der Angeklagte schien zu Erklärungen weder willens noch intellektuell in der Lage. Ursprünglich stand er gestern noch wegen einer weiteren Körperverletzung Anfang Juni 93 am S-Bahnhof Ahrensfelde gegen einen Passanten vor Gericht. Nachdem die Zeugen jedoch nicht erschienen waren, stellte das Gericht dieses Verfahren ein.
Daß Lars F. nun nicht nur drei Jahre, sondern noch weitere sechs Monate im Knast bleiben muß, bezeichnete Richter Schmidt gestern „als Gratwanderung“. Aufgrund von Lars F.s Biographie und vielen Vorstrafen stehe zu befürchten, daß das Urteil auf diesen keine erzieherische Wirkung mehr habe. Im Knast bestehe zudem die Gefahr, daß sein Werdegang als rechtsorientierter Krimineller damit zementiert werde. Andererseits hätten die vielen Bewährungsauflagen nichts gefruchtet. Dem Bericht der Jugendgerichtshilfe zufolge bewegte sich Lars F. schon vor der Wende als 15jähriger in der rechten Szene in Marzahn und trank frühzeitig regelmäßig Alkohol. Den Fall der Mauer erlebte er im DDR-Knast und die Wiedervereinigung in der JVA Plötzensee. Als er im Februar 92 endlich entlassen wurde, kam er mit den veränderten Verhältnissen überhaupt nicht klar. Lars F.s Vorstrafenregister spricht Bände: Erpressung, Diebstahl, versuchter Raub, Körperverletzung. Bei der letzten Tat, die ihn im vergangenen Jahr in den Knast gebracht hatte, hatte er vietnamesische Zigarettenhändler auszurauben versucht. Plutonia Plarre
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen