piwik no script img

Jugendprotest in den 80er Jahren

■ Ein Sammelband über Subkulturen von 1982 bis 1988/ Eine Untersuchung aus dem Zentrum für Psychosomatische Medizin der Universität Gießen/ Highlights sind die Gespräche mit Punks

Im Gegensatz zu den „siebziger Jahren“ sind derzeit Subkulturen kein Thema, das sich eines entfalteten öffentlichen Diskurses erfreuen dürfte. Immer dann, wenn eine Subkultur — mag es sich nun um die HausbesetzerInnen und die Autonomen des 1.Mai in Berlin-Kreuzberg, um Fußballfans oder um die Skinheads handeln — kriminalisiert werden soll, sind die Medien für kurze Zeit voll davon. Um diese jugendlichen Protestgruppen möglichst rasch wieder zu vergessen, bis zum nächsten Mal. Dies dient vornehmlich dazu, eine Auseinandersetzung mit den jeweiligen gesellschaftlichen Hintergründen zu vermeiden, als sie zu diskutieren.

Um so froher bin ich jedesmal, wenn eine Empirie der Subkulturen auf dem Tisch liegt, wie es bei diesem bei Leske und Budrich erschienen Sammelband der Fall ist. Zumal, wenn es sich nicht um eine Monografie handelt, die ihr Interesse auf eine einzige besondere Subkultur zentriert, sondern um ein zwischen 1982 und 1988 entstandenes Panorama: HausbesetzerInnen, Punks, Alternative Projekte, Autonome, christliche Friedensgruppen, Skinheads, Startbahnbewegung oder weibliche Jugendliche, die sich friedenspolitisch, ökologisch oder sozial engagieren. (Wenn auch nur am Rande, so ist doch kritisch anzumerken, daß die Darstellungsweise des Sammelbandes im mosaikhaft Fragmentarischen verbleibt. Eine Zusammenschau, die über die Anmerkungen des Vorworts und den Klappentextes hinausgeht, hätte dem Buch gutgetan.)

Ebenso angenehm erscheint es mir, daß die Empirie dieses Bandes aus Interviews, teilnehmenden Beobachtungen und Gesprächen mit den betreffenden Leuten selbst resultiert und nicht aus dröger Fliegenbeinzählerei (wenn auch, wie es den Künsten dieses Fachs entspricht, alle bereits vorliegenden quantitativen Untersuchungen eingehend rezipiert und als Material eingearbeitet worden sind).

Dies verwundert auch keineswegs. Die Autorinnen und Autoren und die Gallionsfigur Horst-Eberhard Richter, der eine Betrachtung zu psychosozialen Aspekten des Gewaltproblems in Verbindung mit dem Mangel an Partizipationsmöglichkeiten beigesteuert hat, sind dem Zentrum für Psychosomatische Medizin der Universität Gießen zuzurechnen. Dies garantiert eine sozial bewußte Spielart des psychoanalytischen Paradigmas, in dem mathematische Verkürzungen von Sozialwissenschaften keinen Platz haben. Das ist auch an einer Fülle von Interpretationen ablesbar, zu den — unter anderem! — die Untersuchungen gelangen: Sündenbockprojektionen; Identität als „abgespaltene Kehrseite der überkompensatorisch betonten gesellschaftlichen Leitbilder“ (23); der Punkwitz „als Triumph... des Lustprinzips“ (39); verdeckte Ablösungsproblematik von den Eltern; „Größen- und Allmachtsphantasien“ (85); „defensive Aggression“ nach Erich Fromm (121); „verschobene ödipale Vater-Rebellion“ (128); „abgewehrte depressive Anteile“ (138); „Lust-Angst“ (165); Nicht-Integration von Affekten in die politische Theorie; „Identifikation mit dem Aggressor“ (185); und so weiter.

Doch ist auch wieder angenehmerweise festzustellen, daß die Analysen keineswegs in einem verallgemeinernden psychoanalytischen Paradigma aufgehen: Unter anderem umfaßt die vorliegende Montage Liedtexte, Graffiti, politische Verlaufsanalysen, nahezu unkommentierte Berichte, gesamtgesellschaftliche Betrachtungen, Fallgeschichten, Herausarbeitungen bestimmter subkultureller Normen (und hier wiederum die naheliegende Rückkoppelung zum Paradigma, ihre sozialisationsbedingte Verknüpfung) sowie ein relativ umfassendes Literaturverzeichnis, von dem in dem Text auch recht ausgiebig Gebrauch gemacht wird, ohne daß dieser jedoch zum Zitatenfriedhof verbraten wird.

Highlights bilden hierbei die Unterhaltung mit Punks über ihre Rezeption von Franz Kafka, Edgar Allen Poe und Stanislav Lem, die detaillierte Analyse der Gebrauchswertorientierung im Alltagsleben von Punks und die (gleichwohl achtungsvolle) Darstellung der Ambivalenzen von Mitgliedern christlicher Friedensgruppen. Hier, wie auch an anderen Stellen, hätte sich eine zusammenfassende Matrix der verschiedenen Normen als hilfreich erwiesen. Aber warum soll dem/der Leser/in nicht auch noch etwas Arbeit übrigbleiben? Rolf Schwendter

Marlene Bock/ Monika Reimitz/ Horst-Eberhard Richter/ Wolfgang Thiel/ Hans-Jürgen Wirth, Zwischen Resignation und Gewalt — Jugendprotest in den achtziger Jahren, Opladen 1989, Leske und Budrich, 216 Seiten, 19,80 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen