Jugendgewalt und der Code der Straße: Die Währung heißt Respekt
Härtere Strafen werden jugendliche Gewalttäter nicht abschrecken. Wie der Code der Straße, dem diese jungen Leute folgen, funktioniert und welche Strategien wirklich helfen könnten.
JOACHIM KERSTEN, 59, ist Lehrgebietsleiter an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster. Zwischen 1999 und 2001 arbeitete er in Chicago. Er forscht zu den Themen Gewalt, Geschlecht und Kultur und ist Mitautor des Buches "Der Kick und die Ehre - Vom Sinn jugendlicher Gewalt". Dieser Text ist eine gekürzte und redaktionell überarbeitete Fassung einer Vorlesung, die er vorige Woche hielt.
m Jahr 1994 erschien in der US-amerikanischen Zeitschrift Atlantic Monthly ein Essay des Soziologen Elijah Anderson über den "Code of the Streets". Damals hatte das Kriminalitätsproblem in den Innenstädten der USA wegen der epidemieartigen Ausbreitung des Crackkonsums und der stark beschnittenen Sozialpolitik seinen Höhepunkt erreicht. Andersons Studie, eine Ethnografie der alltäglichen Gewalt in den Slums von Philadelphia, befasste sich mit dem Ausmaß der alltäglichen Gewalt, die oft von jungen Männern ausging, die gesellschaftlichen Minderheiten angehörten und die zugleich die wahrscheinlichsten Opfer waren.
Nach Andersons Studie gibt es in den Slums zwei Wertesysteme: das der "Anständigen" und das der Straße. Das Wertesystem der "Straße" beherrscht, obwohl nur eine Minderzahl der Bewohner ein aggressives Gewaltsystem ausübt, die Regeln des Verhaltens im öffentlichen Raum, auch für die Anständigen und ihre Kinder. Wer diese Regeln nicht beachtet, riskiert Gesundheit oder Leben. Die Aggressoren erkennen irgendein Verhalten ihres Opfers als disrespect, als dissing, also als Angriff auf ihre männliche Ehre. Und wer öffentlich "gedisst" wird, muss reagieren, am besten mit Gewalt.
Auch Serkan A. und Spiridon L., zwei einschlägig vorbestrafte junge Männer mit türkischem beziehungsweise griechischem "Migrationshintergrund", die kurz vor Weihnachten 2007 nach einem Streit in der Münchner U-Bahn einen älteren Herrn schwer verletzten und damit eine populistische Debatte über eine Verschärfung des Jugendstrafrechts auslösten, zeigten bei ihrer Vernehmung keinerlei Reue. Der Rentner sei selbst schuld, er habe sie schließlich "angemacht", meinten sie. (Erst später ließen sie über ihren Anwalt und vermutlich auf dessen Anraten ihr Bedauern mitteilen.)
Mit solchen Mehrfach- oder Intensivtätern hat jede Großstadt in Deutschland zu tun; viele dieser Täter haben einen "Migrationshintergrund". Oft ist dieser Familienhintergrund problematisch wie im Fall des Serkan A. Sein alkoholkranker Vater misshandelte Kinder und Frau, Serkans Mutter flüchtete ins Frauenhaus, er selbst kam ins Heim.
Den Serkans und Spiridons ist ein beachtlicher Anteil der als Straßenkriminalität ausgeübten Gewalt schwereren Kalibers zuzurechnen. Die Jugendlichen treten in Gruppen auf, sind aggressiv, fühlen sich durch Nichtigkeiten "angemacht" und schlagen ihre Opfer dann krankenhausreif. Weshalb machen sie das? Doch bevor wir diese Frage beantworten, ein Wort zum Unterschied zwischen der Wahrnehmung der öffentlichen und der häuslichen Gewalt.
Das Bild der Straßengewalt im Münchner Beispiel entspricht fast eins zu eins der medialen Darstellung von Gewalt: Der Täter ist "resolut böse", das Opfer unschuldig. Dies ermöglicht eine klischeehafte Polarisierung von Gut und Böse. Die Notwendigkeit, zwischen Gut und Böse in solcher Reinheit unterscheiden zu können, ist in unserer Kulturen ein tief verwurzeltes Bedürfnis. Medien und Politik fungieren lediglich als Verstärker, die den Medienkonsumenten zeigen, wonach diese verlangen.
ber im gängigen Bild der Straßengewalt werden soziale Probleme auf singuläre Fälle reduziert, und die Verantwortung für das Geschehen wird individuellen Verursachern angelastet. Besonders brutal erscheinende Ereignisse bestätigen Alltagstheorien über die Skala der Delikte, die uns bedrohen. Diese Skala beruht auf einer Sinnestäuschung. Wenn in unseren Wohnungen Partner oder Kinder misshandelt werden, geschieht das nicht einmalig wie im Münchner U-Bahnhof, sondern wöchentlich und jahrelang, nur dass keine Überwachungskamera das Geschehen aufzeichnet. Die Folgen für die Opfer sind mitunter ebenso schlimm. Eine schnelle, erfolgreiche Ermittlung durch die Polizei bleibt aus, ebenso die öffentliche Anteilnahme an den Opfern. Tötungsdelikte, schwere Körperverletzung, sexuelle Nötigung, Missbrauch jeder Art geschehen meist nicht in dunklen Gassen, Parks oder U-Bahnhöfen. Tatort Nummer eins ist das traute Heim. Nur weil diese alltägliche Gewaltausübung meist unsichtbar bleibt, erscheint das Überwachungskamerabild vom Karatekick gegen den Münchner Rentner, erscheint die Gewalt der Straße als derart schockierend und unvorstellbar.
Straßenkulturen funktionieren nach den Regeln der Straße, die Anderson in seiner Ethnografie des Problemstadtteils von Philadelphia beschrieben hat. Es handelt sich dabei um einen Katalog informeller Regeln, die das Miteinander von Personen und die Gewaltanwendung steuern. Bedeutend sind dabei Vorschriften für das "Auftreten" von Personen, die einen gewissen Status für sich beanspruchen. Zugleich schreiben sie Reaktionen vor, wenn diese Personen sich durch andere herausgefordert sehen. Dieser Code ist verbindlich - sowohl für die Streetleute, als auch für jene, die versuchen, ohne kriminell zu werden, zu überleben.
Im Kern des Codes steht der Begriff "Respekt". Das ist die Währung, die zählt. Ursprünglich bedeutet Respekt "Rücksicht". Doch hier geht es um das genaue Gegenteil: um den Respekt als Tributleistung an die gesellschaftlich Nichtrespektablen. To pay ones respect verweist auf die Heller-und-Pfennig-Qualität des Worts, to pay ones last respect bedeutet, man erweist die letzte Ehre, indem man zum Begräbnis erscheint. Das machen jene aber nicht, die jemand wegen (einer unterstellten oder beabsichtigten) Respektverletzung umbringen. Jemandem Respekt erweisen, besser: zollen, verbindet sich mit einer Erwartung von Unterwürfigkeit der Niedriggestellten; einer vormodernen hierarchischen Anordnung. Wenn der Feudalherr mit seinen Samurai vorbeireitet, muss sich der Pöbel in den Staub werfen und den Kopf senken. Im feudalen Japan und Europa beruht diese bedingungslose Unterwürfigkeit auf enormen Sanktionsdrohungen. Wer sich respektlos gegenüber der Herrschaft verhält, verliert sein Leben. In einigen Slums ist das auch das Sanktionsprinzip der Gangsta-Herren.
"Respekt" ist für den, der ihn gezollt haben will, ein äußerst hochwertiges Objekt: schwer erkämpft, leicht verloren, und es muss ständig darauf geachtet werden. Der Code der Straße gibt den Rahmen ab für die Wahrung und Wartung von "Respekt". Das Erscheinungsbild einer Person, ihre Kleidung und ihr Auftreten, sollen wie beim Samurai verdeutlichen, dass ein gewisses Maß an "Respekt" selbstverständlich aufzubringen ist. Man wird als Respektperson nicht "angemacht", nicht "gedissed". Für den Vorwurf und die Ahndung des dissing gilt der Code der Straßenregeln, nicht das Bürgerliche Gesetzbuch. Die erfolgreiche Comedysendung "Was guckst du?" oder die Clowns des Mundstuhl-Duos bringen in ihren Sketchen mit Protagonisten aus dem Zuwanderungsmilieu das Wesen der Respekterwartung und seines Gegenteils, des dissing, besser auf den Punkt als die Desintegrationstheorien vieler Gewaltexperten.
Denn die alltägliche Aggressivität hat nicht nur etwas mit Arbeitslosigkeit zu tun. Sie bricht in konkreten Situationen los und hat mit extremer Empfindlichkeit gegenüber Andeutungen nonverbaler oder verbaler Missachtung und Beleidigung zu tun. "Zeichen" der Missachtung werden als Angriffsverhalten aufgefasst und mit verbaler und physischer Aggression beantwortet. Darin drückt sich eine erhebliche Entfremdung von den Werten und Zeichen der bürgerlichen Gesellschaft aus. Tatsächlich bedeutet der Code eine kulturelle Anpassung, eine Gewöhnung daran, dass die Menschen den Glauben an die Polizei und die Justiz aufgegeben haben, schreibt Anderson.
Dass man in den Armenslums von Chicago, New York und Los Angeles diesen Glauben verloren hat (sofern man je Grund dazu hatte, ihm zu vertrauen), liegt daran, dass sich die Polizei dort nicht um die Bewohner kümmert. Sie kommt nicht, wenn sie gerufen wird. Sie repräsentiert für die Menschen, die dort leben, nur die Mehrheitsgesellschaft.
Diesen Mangel an demokratischer police accountability kann man auch der Staatsmacht in Frankreich im Umgang mit den Banlieues vorwerfen. Dieser Mangel war die Hauptursache der Ausschreitungen vom Herbst 2005. Da er nicht behoben wurde, schon gar nicht unter Präsident Nicolas Sarkozy, der diesen Mangel für eine Tugend hält und meint, man könne soziale Missstände "wegkärchern", gab es 2007 erneut Ausbrüche der Gewalt.
Wer in rechtsfreien Räumen (rechtsfrei im Sinne demokratisch verfasster Gesellschaften) "auf sich selbst aufpassen" kann und psychologische oder physische Kontrolle ausübt, gar andere beschützen kann, genießt Respekt. Er kann auch nicht als völlig willkürlicher Nachbarschaftsdespot auftreten. Er muss ein System von Geben und Nehmen mit seinesgleichen aufbauen; er braucht Reputation und auch die Angst, die man vor seiner Gewalt hat, wenn man sie herausfordert. Der Code der Straße entstehe dort, wo der Einflussbereich der Polizei ende und es der persönlichen Verantwortung des Einzelnen unterliege, sich um die eigene Sicherheit zu kümmern, schreibt Anderson. Sind die Straßenregeln etabliert, bestimmen sie auch das Verhalten von nicht delinquenten Personen im öffentlichen Raum des Problemviertels, weil dieses von den Herren der Straße dominiert wird.
Die Mehrheit der Leute in Problemvierteln gehört zu den working poor. Sie sind materiell bessergestellt als die Empfänger staatlicher Hilfen, und sie schätzen den Wert ehrlicher Arbeit. Sie sind bereit, für ihren Nachwuchs Opfer zu bringen, und glauben grundsätzlich an das Wertesystem der Mehrheitsgesellschaft. Sie hoffen auf eine bessere Zukunft, zumindest für ihre Kinder. Viele sind als Eltern streng, wachsam, religiös, aber prinzipiell kooperationsbereit, wenn es um die Wiederherstellung eines sozial verträglichen Zustands im Viertel geht.
ie "Desorganisierten" hingegen nehmen wenig Rücksicht auf andere. Sie sind als Eltern selten oder gar nicht dazu in der Lage, mit den Anforderungen an ihre Rolle umzugehen. Ihr Alltag ist oft desorganisiert und voller Frustrationen. Die Frauen haben sich in Beziehungen mit Männern verstrickt, die sie häufig ausbeuten. Ihre Verbitterung und ihr Ärger sitzen tief; ihr Wunsch nach Kontrolle wird versagt, was zu dem Bedürfnis, "auszuteilen", führt; ihre Sicherungen brennen schnell durch. Ihr Erziehungsstil ist oft ungeduldig, Grundlage eines von Gewaltgebrauch gekennzeichneten Verhältnisses zu ihren Kindern. Für die kleinsten Irritationen gibt es Schläge.
Dies nennt die Kriminologie den "intergenerationellen Zyklus der Gewaltbereitschaft". Kinder erfahren die Auseinandersetzungen und die häusliche Gewalt in der eigenen Wohnung und erlernen die Grundregel "might makes right", Gewalt geht vor Recht. Die praktischen Konsequenzen aus diesem Lernerfolg lauten, dass man Konflikte physisch angehen und schnell zuschlagen muss.
Die Straße ist Sozialisationsagentur für Straßenkids, und die Clique der Gleichaltrigen ersetzt die Familie. Die Straße lehrt, sich gewaltsam durchzusetzen. Schlagen, verbales Herabsetzen, Beschimpfen gehören zur Sozialisation in der Straßenkultur. Das System beruht auf andauernden Respektkampagnen; darauf, schon in der Kindheit streiten und kämpfen zu lernen. Wer dann Kämpfe physisch für sich entscheiden kann, erntet den Respekt der anderen. Might makes right wird zur Lebensregel; Härte gilt als unverzichtbar. Die soziale Bedeutung des dauernden Kämpfens liegt dem nicht zu unterbrechenden Gewaltzyklus zugrunde: Wenn dich jemand anmacht, zahl es ihm zurück. Wenn dich jemand disst, mach ihn fertig.
Ausdruck findet das Selbstwertgefühl in bestimmten materiellen Dingen, vor allem Luxusobjekten: Jacken, teure Sportschuhe und Goldschmuck sind das nach außen gezeigte Symbol des Eigenwerts; des Besitzes, den man verteidigen kann und wird, falls ihn jemand anrühren sollte. Um dazuzugehören, muss man die angesagten Luxusobjekte, die "korrekte" Kleidung, die entsprechenden Markenschuhe etc. vorzeigen können. Wer das nicht kann, wird verspottet oder sogar angegriffen. Ein Selbstwertgefühl, das auf Dingen beruht, ist ein prekärer Zustand.
Man kann allerdings durch den Diebstahl, den Raub von Objekten "dazugehören": das Ganze ist eine Trophäenökonomie mit einer dissozialen Laufbahnordnung: Ich klettere sozial nach oben, je besser ich jemand anderen runtermachen kann. Wenn jemand den Code der Straße nicht kennt und deshalb zu meinem Opfer wird, ist er "selbst schuld". Niemand sollte es wagen, meine männliche Ehre anzurühren: Denn sie ist das Einzige, was zählt. Ich muss nach außen deutlich machen: Nichts schreckt mich, ich schrecke vor nichts zurück. Ich habe nichts zu verlieren, das schützt mich. Das Gefängnis ist keine Katastrophe, es zählt wie eine Promotion, es steigert meinen Status, meine Reputation auf der Straße. Außerdem sitzen meine Kumpels schon dort, und wir halten zusammen und kontrollieren die Knastökonomie.
Die Münchener Tatverdächtigen sind Zöglinge der hier beschriebenen Sozialisationsagenturen, ihrer Normen und ihres Codes. Deshalb zeigen sie keine Reue. Sie durch Überschreiten des Höchststrafmaßes im Rahmen der Jugendstrafe bändigen zu können ist eine völlig absurde Annahme. Denn dieser Code der Straße dient dem Schutz und Selbstwert derer, die keine anderen Ressourcen haben als ihre männliche Ehre. Sie verachten das Wertesystem der Abgesicherten, und anstelle erwachsener männlicher Vorbilder sind die Leitfiguren der Szene Gangsta-Rapper wie Bushido, die Gewalt als Antwort auf vermeintliches Dissing verklären, Selbstmordattentate verherrlichen und dies mit einem brachialen Machismo kombinieren ("Wir stürzen ab, und ich ficke mit der Stewardess", rappt etwa Bushido). Diesen Jugendlichen fehlt es von klein auf an sozialen Perspektiven, an Einsicht in die Folgen ihres eigenen Handelns und an Scham über schädliches Verhalten. Von ihnen Reue zu erwarten ist naiv. Sie haben es nicht gelernt, wir haben es ihnen vorenthalten, weil wir sie sich selbst überlassen haben.
icht längere Haftstrafen oder Bootcamps werden bei denen helfen, die noch nicht vor dem Richter stehen. Stattdessen benötigen wir Netzwerke aus Professionellen und Engagierten in den entsprechenden Vierteln. Es braucht ein tatsächliches Zusammenwirken von Bewohnern, Eltern, Sozialarbeitern, Lehrerinnen, Aktivisten, die etwas ändern wollen, keine elitären Clubs der Kriminalprävention. Der Aggression im Alltag muss entschiedener begegnet werden. Eine mit Recht und humanitärem Anstand vereinbare Form, die Täter zu beschämen, müsste entwickelt werden. Das wäre kein Pranger, wie deutsche Pädagogik stets vermutet.
Wer Schaden verursacht, muss lernen, sich zu stellen und Empfindungen darüber zuzulassen. Diese Empfindung heißt Scham. Man kann sie genauso lernen wie den negativen Code, der Schuld an Gewalt leichter ertragen lässt als Scham. So etwas wäre eine deutlichere Reaktion auf einsetzende Formen der Gewaltorientierung bei Jugendlichen. Wer Gewalt verhindern will, muss ihre Neutralisierung bei den wahrscheinlichen Tätern und ihrem sozialen Umfeld bekämpfen. Das bedarf geschulter Kräfte und wird trotzdem anstrengend werden.
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