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■ Jugenddelinquenz: Täter-Opfer-Ausgleich und Antigewalttraining statt Untersuchungshaft und PsychiatrieJugendliche brauchen positive Autorität

Vor einigen Wochen wurde im Hamburger Stadtteil Tonndorf der Inhaber eines kleinen Lebensmittelgeschäftes ermordet. Täter waren zwei 16jährige Jugendliche, die nach einer Serie von Straftaten in einer nahebei gelegenen offenen Jugendwohnung untergebracht waren. Danach entbrannte erneut die Diskussion über Jugendkriminalität. Gerhard Schröder und andere Politiker fordern die Unterbringung von straffälligen Jugendlichen in geschlossenen Heimen, Politiker der Union wollen außerdem das Jugendstrafrecht verschärfen.

Im Zentrum der Debatte steht dabei die Rolle von Justiz und Jugendgerichtshilfe. Ein jugendlicher Straftäter sollte nach der Intention des Jugendgerichtsgesetzes frühzeitig mit seiner Tat konfrontiert werden. Als Anwalt in Jugendverfahren erlebe ich jedoch häufig, daß diese Vorgaben nicht eingehalten werden. Bei der überwiegenden Anzahl von Straftaten handelt es sich um sogenannte Bagatelldelikte wie Diebstahl, Schwarzfahren oder Raufereien. Oft werden die Ermittlungen eingestellt, ohne daß die Justiz überhaupt der Versuch unternommen hat, Einfluß auf die Jugendlichen auszuüben.

Diese fehlende Reaktion führt in einer Reihe von Fällen dazu, daß die Jugendlichen polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlungen nicht ernst nehmen. In dem unbewußten Wunsch nach Beachtung begehen sie dann weitere, oftmals schwerere Delikte und steigen damit in eine kriminelle Karriere ein. Die Ohnmacht der Justiz im Umgang mit solchen massiv kriminell und drogenabhängig gewordenen Jugendlichen hat Ausmaße angenommen, die der breiten Öffentlichkeit noch keineswegs bewußt sind.

Nicht rechtskräftig verurteilte Jugendliche müssen häufig für mehrere Monate in Untersuchungshaft sitzen. Das weiß ich nicht nur aus meiner Berufserfahrung, das ergibt sich auch aus einer Studie, die der Kriminologe Christian Pfeiffer vor einem Jahr im Auftrag des Hamburger Senats erstellt hat. Diese Vorgehensweise, die purer Hilflosigkeit entspringt, wird dann im später erfolgenden Urteil als erzieherische Maßnahme gewertet.

Die Sozialisation der Jugend verläuft heute völlig anders. Die klassischen familiären Strukturen befinden sich in Auflösung. Die jungen Menschen, mit denen die Justiz zu tun hat, kommen aus verschiedenen Ethnien und höchst unterschiedlichen familiären Kontexten. Justiz und Jugendgerichtshilfe sind sichtlich damit überfordert, die Herkunft und die Lebensumstände dieser Jugendlichen angemessen zu beurteilen.

Noch ratloser reagieren Jugendrichter und Staatsanwälte auf Jugendliche mit massivem Drogenkonsum und entsprechenden psychosozialen Problemen. Immer wieder mußte ich erleben, daß diese Jugendlichen in geschlossenen psychiatrischen Anstalten untergebracht werden.

Weder Untersuchungsgefängnis noch geschlossene Psychiatrie können in irgendeiner Weise den Erziehungsauftrag des Jugendgerichtsgesetzes gegenüber dem straffällig gewordenen Jugendlichen erfüllen. Es handelt sich um pure Verwahrung ohne erfolgversprechende Resozialisierung. Die Perspektiven für die betroffenen Jugendlichen sind düster, die hohen Rückfallquoten sind nicht verwunderlich.

Angesichts dieser Normalität erscheint die Diskussion um geschlossene Heime als verfehlt und realitätsfern. Da es in vielen Bundesländern keine Unterbringungsmöglichkeiten in der Mitte zwischen Untersuchungsgefängnis/ Psychiatrie und offenen Jugendwohnungen gibt, muß über neue Konzepte für das Jugendstrafverfahren und die Unterbringung nachgedacht werden.

So ist es dringend notwenig, daß Kinder und Jugendliche mit ihrer Tat konfrontiert werden und positiv besetzte Autorität erleben können. Auch ohne aufwendiges Strafverfahren sollte bei den Jugendlichen ein Bewußtsein für die Konsequenzen ihrer Tat geweckt werden. Erst bei einem Rückfall sollten gerichtliche Maßnahmen eingeleitet werden, wobei aber immer ein naher Bezug der Sanktionen zu der Tat im Auge behalten werden müßte. Positive Autorität bedeutet aber auch, daß Jugendliche dazu angehalten werden, über die Ursachen ihres Handelns und das Ausmaß der dem Opfer zugefügten Verletzungen nachzudenken.

Seit jüngstem verfolgt in Hamburg der Jugendhilfeverein „Nordlicht“ ein ähnliches Konzept, indem er straffällig gewordene Jugendliche nach dem Prinzip des „heißen Stuhls“ auf ihre Tat anspricht, ihnen Fotos der Opfer präsentiert und sie nach ihren Motiven befragt. Das Jugendgerichtsgesetz gibt dem Jugendrichter die Handhabe, Delinquenten solche Maßnahmen aufzuerlegen, bei Nichtbefolgung können härtere Sanktionen folgen. Bei Gewaltdelikten sollte neben Gesprächen auch die Teilnahme an einem intensiven Antigewalttraining auferlegt werden. Grundsätzlich sollte ein solches Training aber nicht erst auf bereits begangene Taten folgen, sondern schon in der Schule und/ oder in der stadtteilbezogenen Jugendarbeit angeboten werden. Hierbei kann bei den Jugendlichen ohne aufwendiges Strafverfahren bei einfachen und mittleren Straftaten ein Bewußtsein für die Konsequenzen ihrer Tat geweckt werden.

Um überhaupt Kontakt zu den Jugendlichen aufbauen zu können und ein Minimum an Erfolgsaussichten zu haben, muß es dabei auch möglich sein, Jugendliche in besonders schweren Fällen unterzubringen – natürlich nur mit intensiver Begleitung. Dabei darf Unterbringung nicht mit dem Anfang der 80er Jahre vorherrschenden und jetzt wieder diskutierten Konzept der geschlossenen Heimunterbringung verwechselt werden. Zu dieser Zeit war die jugendkriminelle Szene von anderer Qualität, die Gewaltbereitschaft war weitaus geringer. Zum anderen fehlte diesem „Wegschließ“- Konzept eine entsprechende pädagogische und psychologische Begleitung.

Den Jugendlichen müssen zwar einerseits ihre Grenzen sehr deutlich gemacht werden, andererseits bedürfen sie aber ebenso umfänglich einer sozialen Betreuung, für die ein Gefängnis oder eine geschlossene Anstalt die falsche Umgebung ist. Unterbringung und intensive Begleitung müssen heute vielmehr in Form eines Stufenkonzeptes aufgebaut werden. Angefangen von einer niedrigschwelligen stationären Betreuung bis hin zu einem betreuten Wohn- und Arbeitsgruppenprojekt, wenn sich der Jugendliche entsprechend bewährt. Mahmut Erdem

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