piwik no script img

Judith Schalanskys "Hals der Giraffe"Verloren in der Bildungssteppe

Mit der Biologielehrerin Inge Lohmark hat die Schriftstellerin Judith Schalansky die wunderbar-grausamste Romanfigur der Saison geschaffen.

Inge Lomark ist Biologielehrerin - das alles bestimmten Naturgesetzen folgt, hilft ihr, die zunehmende Unordnung ihrer Welt zu ertragen. Bild: ap

Wenn die Materialität des Buchs selbst zum Text wird, der gelesen werden will, sehen E-Books ziemlich alt aus. Judith Schalanskys Bücher sind immer auch haptische Kunstwerke. Auf den Kindle runtergeladen, würden sie mindestens eine Betrachtungsebene verlieren. Der Matrosenroman "Blau steht dir nicht" oder der "Atlas der abgelegenen Inseln" sind auch bibliophile Bände zum Betrachten, Blättern und Bildergucken. Ihr Äußeres gleicht, frei nach Gérard Genette, einem Vestibül, das einen verlockt, einzutreten.

Auch bei dem neuen Roman der 1980 geborenen Autorin ist das so: Was man zunächst wahrnimmt, ist ein schlichter grauer Leineneinband mit der Anmutung eines naturwissenschaftlichen Lehrbuchs. Aber dieser Einband führt ein Eigenleben. Vom Cover zur Hauptfigur von Judith Schalanskys neuem Roman "Der Hals der Giraffe" ist es nämlich nur ein kleiner Schritt: Die Biologielehrerin Inge Lohmark wirkt zu Beginn ähnlich spröde, streng und abweisend wie das graue Leinen. Wenn man das Buch aber anfasst, spürt man das Raue und das Besondere des Materials, das Gewebe.

Zynisch und kalt ist diese Inge Lohmark. Man fühlt sich an die schlimmsten Lehrergeschöpfe der eigenen Schulzeit erinnert. Sie unterrichtet Sport und Biologie, und die Naturwissenschaften haben auch ihr Weltbild geprägt. Das besteht aus einem synkretistischen Gebilde, einem Konglomerat aus allen möglichen biologistischen Lehren. Im Herzen glaubt sie an Darwin, der ihr zu einem Ersatzgott wird. Aber ihr Name Lohmark verweist noch auf einen anderen Säulenheiligen, den Evolutionstheoretiker Lamarck, der von Darwin nicht sonderlich geschätzt wurde.

Der Lamarckismus geht von einer Vererbung erworbener Eigenschaften aus. Der lange Hals der Giraffe entstand, lamarckistisch gesprochen, dadurch, dass sich das Tier im Lauf der Generationen immer mehr in die Höhe recken musste, um an die nahrhaften Blätter in den Baumkronen zu kommen. Lohmark, Lamarck und Darwin - da haben sich drei in der ostdeutschen Provinz gefunden.

Dass alles bestimmten Naturgesetzen folgt, hilft Inge Lohmark, die zunehmende Unordnung ihrer Welt zu ertragen. Und sie setzt sich immer starrsinniger zur Wehr gegen die Zumutungen ihres Alltags. Sie sieht sich umzingelt von geistig minderbemittelten Kindern und inkompetenten Lehrern, von denen manche sogar noch eine falsche Kumpanei mit ihren "natürlichen Feinden" - den Schülern - anstreben.

Sarkastisch und lustig

Judith Schalansky hat eine wunderbar-grausame und mindestens ebenso bemitleidenswerte und anrührende Figur geschaffen. Sie hat dafür eine grandiose, eindrückliche Stimme entwickelt, die sarkastisch ist und für den Leser zugleich sehr lustig. Ganz stringent und konsequent offenbart Schalansky nach und nach den Charakter von Inge Lohmark, in einem monologischen Hin und Her zwischen Interaktion und Kommentierung dessen, was sie in der Schule auf- und wahrnimmt.

In drei Kapiteln, die den Unterrichtseinheiten für das Fach Biologie in der neunten Klasse entsprechen, lässt Judith Schalansky ihre Protagonistin gegen die Verblödung ihrer Umwelt ankämpfen: "Naturhaushalte", "Vererbungsvorgänge" und "Entwicklungslehre". Gekleidet ist das in eine Suada aus lauter kurzen Hauptsätzen. Letzten Sätzen. Lehrsätzen, die zuweilen zu richtig leeren Sätzen werden: "Nichts ist sicher. Sicher ist nichts" - ein wiederkehrendes Mantra der Lehrerin.

Inge Lohmarks Verbitterung bekommt so eine Form; ihre verächtlichen Gedanken laufen permanent als Tonspur mit. "Nein, diese Kinder hier kamen ihr wirklich nicht vor wie Diamanten auf der Krone der Evolution. Entwicklung war etwas anderes als Wachstum. Dass qualitative und quantitative Veränderung weitestgehend unabhängig voneinander geschah, wurde hier erschreckend eindrücklich demonstriert. Die Natur war nicht gerade schön anzuschauen auf dieser unentschiedenen Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz."

Bei Inge Lohmark läuft die Welterklärungsmaschinerie auf Hochtouren. Und sie dreht hohl. Irgendwann fängt die geölte Lohmark'sche Weltekelproduktion aber doch zu stottern an. Leichte Irritationen treten auf. Eine Schülerin scheint in ihr Sentimentales anzutriggern, das zugleich das Verhältnis zu ihrer Tochter berührt.

Claudia hat sich aus ihrem Leben davongestohlen, lebt weit weg in den USA, meldet sich fast nie und kommuniziert mit ihrer Mutter nur im äußersten Notfall. Die Tochter ist ihr abhanden gekommen - eine Kränkung. Sie hat die natürliche Erbfolge gekappt: Nicht einmal eine Enkelin wird Inge Lohmark geschenkt. Wie ein Automatismus läuft dieser Gedanke in ihr ab. Lohmark ist an einem Punkt ihres Lebens, an dem sie eigentlich Bilanz ziehen möchte - aber die geht nicht auf. Sie weiß, dass etwas nicht stimmt, aber gleichwohl ist sie nicht in der Lage, den Fehler in der biografischen Rechnung zu entdecken. So lebt sie ganz in ihrem eigenen, beziehungslosen Universum, zu dem kaum jemand Zugang hat. Nicht einmal ihr Mann scheint ihr sehr nahe zu kommen - während des ganzen Buches begegnen sie sich kein einziges Mal.

Ihr Ehemann betreibt eine Straußenfarm, von denen es in Mecklenburg-Vorpommern tatsächlich einige gibt. Die Tiere passen gut in diese verblühenden Ostlandschaften. Die zunehmende Versteppung ist die Folge einer wirtschaftlichen Katastrophe. Es gibt keine Arbeit, die Jungen ziehen weg, vor allem jene, die noch anderswo Arbeit finden können. In dieser aussterbenden Gegend überleben tatsächlich nur Tiere, denen die Kargheit nichts anhaben kann. Das gilt nicht zuletzt auch für die Menschen, die hier ausharren.

Die Schule ist Teil der Verfallsgeschichte. Weil die Schülerzahlen sinken, steht sie kurz vor dem Aus. In vier Jahren ist Schluss, dann wird das Gymnasium abgewickelt. Das aber lässt sich ebenfalls - wenn auch auf widersprüchliche Weise - in Inge Lohmarks Weltbild integrieren, das eben auch ein sozialdarwinistisches ist: Aus ihr, in der DDR sozialisiert, spricht der Geist des Neoliberalismus. Natürlich ist ihre Hingabe an die Theorie eine große Vermeidungsstrategie. Auf diese Weise muss sie sich weniger mit dem eigenen Leben auseinandersetzen - und schon gar nicht mit Sinnfragen.

Mit ihrem Latein am Ende

Bildungsroman nennt Judith Schalansky ihr Buch im Untertitel. Das ist ein wenig ironisch gemeint - denn eine Entwicklung macht die Figur nur in sehr beschränktem Maße durch. Gehandelt wird von einer Frau, die am Ende ihrer Bildungskarriere und buchstäblich am Ende ihrer Schulzeit angelangt ist. Und auch ihres Lateins. Denn mit ihren vorgeformten Lerneinheiten kommt sie zumindest in ihrem stockenden Leben nicht weiter.

Sie versucht ihr Weltbild zu bewahren; zugleich schafft sie es nicht einmal, es auf ihre engste Umgebung anzuwenden. Den fortwährenden Wandel, die Veränderungen ihrer Schüler, die Ideen ihrer Mitlehrer kann sie nur als Endspiel wahrnehmen. Sie predigt Anpassung und kommt selber mit ihrer neuen Umwelt nicht zurecht. Sie erscheint selbst wie ein Tier, das nach langer Gefangenschaft wieder in seiner angestammten Landschaft ausgesetzt wurde und fast alle Instinkte verloren hat.

Dass am Ende vielleicht doch ein kleiner Bruch in Inge Lohmarks Denken stehen könnte, das lässt sich mehr erahnen als belegen. Aber auch das spricht für diesen großartigen, virtuosen, vielschichtigen Roman, der seine Figur nur einer sehr behutsamen Entwicklung aussetzt und in dem eine Stimme zu hören ist, die dem Leser noch lange im Ohr bleiben wird.

Judith Schalansky: "Der Hals der Giraffe. Bildungsroman". Suhrkamp Verlag. Berlin 2011. 222 Seiten. 21,90 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen