Jubiläum eines Fernsehhits: Der X-Faktor
„Akte X“ wird 20 Jahre alt. Die Fernsehserie lieferte in den 90er-Jahren die Grundlage für Verschwörungstheorien und Qualitätsserien.
Der Verdächtige hat eine besondere Vorliebe für Blau. Der unscheinbar aussehende Mann auf dem Rücksitz des Polizeiwagens schwärmt geradezu von der Uniform des Beamten: „Himmelblau – der beruhigendste Blauton.“
Während sie durch eine typische verschlafene US-amerikanische Vorstadtsiedlung fahren, beeinflusst er den Fahrer weiter mit seinen mantrahaften Wiederholungen, bis dieser wie in Trance einen schweren Unfall mit einem entgegenkommenden Lastwagen verursacht. Der „Pusher“, wie sich der Täter selbst nennt, kann entkommen.
Es ist nicht nur die Fixierung auf die Farbe in dieser „Akte X“-Episode von 1996, die augenblicklich an die Geschichte von Walter White in „Breaking Bad“, dem aktuell wohl größten Antihelden der Seriengeschichte und Hersteller von kristallblauem Crystal Meth, erinnert.
Der von Schauspieler Robert Wisden verkörperte „Pusher“ könnte eine direkte Vorlage für den White-Darsteller Bryan Cranston gewesen sein. Ein Kontrollfreak, der die Menschen in seinem Umfeld durch Suggestion zu den widernatürlichsten Handlungen antreibt – bis in den Tod.
Die Blaupause für „Breaking Bad“
In ebendieser frühen „Akte X“-Folge, der zweiten, die Autor Vince Gilligan geschrieben hat, ist die „Blau“-Pause seiner späteren Erfolgsserie „Breaking Bad“ im Grunde schon angelegt.
Der Digitalkanal ProSieben Maxx wiederholt die ersten vier Staffeln von „Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI“: montags ab 20.15 Uhr, jeweils fünf Folgen am Stück.
Ein unterschätzter und vom Leben enttäuschter Durchschnittsbürger erlangt durch einen Hirntumor telekinetische Fähigkeiten, entwickelt sich zum Auftragskiller und stirbt lieber in einem spektakulären Showdown, als sich einer lebensrettenden Operation zu unterziehen: „Er war immer so ein kleiner Mann. Das war endlich etwas, mit dem er sich groß fühlen konnte“, fasst FBI-Special-Agent Mulder (David Duchovny) „Pushers“ Schicksal am Ende der Folge zusammen.
Die von Serienschöpfer Chris Carter erdachte Serie wurde nicht nur zu einem der größten Fernsehhits der 1990er Jahre. Der Rest ist Geschichte: Die beiden Hauptdarsteller Gillian Anderson (als Mulders Kollegin Dana Scully) und David Duchovny erlangten den Status von Popkultur-Ikonen, die Serie selbst löste einen ziemlich langlebigen Boom an Alien-Verschwörungstheorien und Film- und Fernsehstoffen aus, die sich mit allerlei Übernatürlichem beschäftigten.
In Deutschland feiert die Serie in diesem Jahr ihr 20-jähriges Jubiläum. 1994 wurde „Akte X“ beim jungen Kabelsender Pro7 zum identitätsstiftenden Kulthit. Nun strahlt der Digitalableger ProSieben Maxx die Serie erneut von der ersten Folge an aus. Die Hommage zum Jubiläum kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einfluss von „Akte X“ auf die aktuell gefeierte TV-Serienlandschaft häufig unterschätzt wird. Denn es ist nicht nur Gilligan, der seine ersten Erfahrungen in Carters Schreibwerkstatt sammelte.
Auch die ehemaligen „Akte X“-Autoren und -Produzenten Alex Gansa und Howard Gordon sitzen heute regelmäßig bei den wichtigen Preisverleihungen. Mit „24“ haben sie Anfang des Jahrtausends dem politischen Actionthriller im Fernsehen eine radikal neue Ästhetik verpasst, seit drei Jahren bringen sie mit der heiß diskutierten Politserie „Homeland“ die Regierungsparanoia zurück auf den Bildschirm.
Anfangs fand „Akte X“ keine Beachtung
Frank Spotnitz ist ebenfalls ein „Absolvent der ’Akte X‘-Universität“, wie er sich und seine Exkollegen bezeichnet. Carter holte ihn als unerfahrenen Autor im zweiten Serienjahr ins Team und machte ihn im Laufe der neun Staffeln zu einem seiner engsten Vertrauten. Heute lebt Spotnitz in London, entwickelte für die BBC die Spionageserie „Hunted“ und unterrichtet im Rahmen des europäischen Workshops „Serial Eyes“ an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin junge Nachwuchsautoren.
Daniel Suarez hat in seinen Science-Fiction-Romanen prophezeit, was heute alle wissen: Die Überwachung im Netz ist total. Der Autor und Hacker hat sich ein neues Internet ausgedacht. Wie das aussieht, erklärt er im Interview in der taz.am wochenende vom 18./19. Januar 2014 . Darin außerdem: Eine Hommage an den 100. Geburtstag von Arno Schmidt, eine Geschichte von einem traumatisierten Soldaten, der gegen die Geister des Krieges kämpft und eine Reportage über die Tram Linie 1 in Jerusalem, die die gespaltene Stadt dennoch verbindet. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Er erinnert sich gut daran, dass die „Akte X“ anfangs keine Beachtung in der Branche fand: „Die ernst zu nehmenden Dramaserien erzählten von Anwälten, Ärzten und Polizisten. Das, was wir machten – all diese Monster und kleinen grünen Männchen – war für sie nerdiger Kram für Teenager und Freaks.“
Tatsächlich hatte die erstmals im September 1993 ausgestrahlte Serie das Glück, in den frühen Tagen auf dem US-Kabelsender Fox zu laufen – der Sender war auf der verzweifelten Suche nach einem Hit und verlängerte das Format nach einer ordentlichen, aber nicht übermäßig erfolgreichen ersten Staffel. „Im Laufe der Zeit vergrößerte sich die Zuschauerzahl immer weiter, in den ersten fünf Jahren ging es stetig nach oben. Wir bekamen Emmy-Nominierungen und gewannen dreimal den Golden Globe als beste Dramaserie.“
Standard für gegenwärtige Qualitätsserien
Doch was ist nun eigentlich das Erfolgsrezept dieser Geschichte um das ungleiche Agentenpaar, das scheinbar übernatürlichen Fällen auf den Grund ging, Aliens jagte und dabei eine undurchsichtige Regierungsverschwörung aufdeckte?
„Chris Carter hatte einen außergewöhnlichen Geschmack. Er stellte ausgezeichnete Leute ein und ließ sie verdammt hart arbeiten, egal wie groß ihr Talent war“, erzählt Spotnitz. „Er erwartete viel von uns und akzeptierte nie weniger als unser Bestes.“ – „Es war eine Erfahrung fürs Leben.“ Ohne „Akte X“, ist sich Spotnitz sicher, gäbe es heute auch kein „Breaking Bad“.
Die erste Folge, mit dem deutschen Titel „Gezeichnet“, definierte den außergewöhnlichen filmischen Look von „Akte X“, der für die gegenwärtigen „Qualitätsserien“ zum Standard gehört, um sich von der für gewohnt biederen Fernsehästhetik zu unterscheiden.
Die Mythologie hinter den grünen Männchen
Zudem entwickelten die Schöpfer im Laufe von 202 Episoden neben den üblicherweise in einer Folge abgeschlossenen „Fall der Woche“-Folgen eine staffelübergreifende Mythologie, die auch heute noch Fans auf der ganzen Welt fasziniert und fesselt.
„In der Mytholgie ging es um einige wirklich profunde Dinge, die von den meisten Zuschauern gar nicht wahrgenommen werden“, erklärt Spotnitz. „Auf den ersten Blick mag es um alberne grüne Männchen gehen, aber eigentlich geht es um Glaube und Sinn – die Geschichten sollten zuallererst unterhaltsam sein. Aber wenn man innehält und darüber nachdenkt, stößt man auf viele nette Ideen.“
Spotnitz überlegt einen Moment und fügt dann hinzu: „Was alle Absolventen von ’Akte X‘ gemeinsam haben, ist ihr enormer Ehrgeiz bei allem, was sie tun, und die Intelligenz, mit der sie es tun.“ Eigentlich, sagt Spotnitz, habe er immer für das Kino schreiben wollen, „weil ich dachte, das sei das Medium für kluge Menschen. Bei der Arbeit mit Carter habe ich gelernt: Fernsehen kann schlau und anspruchsvoll sein!“
Dass die großartigsten Serien unserer Zeit, wie eben nun „Akte X“, nur noch im TV-Spartenprogramm zu verfolgen sind, zeugt indes nicht gerade von sehr viel Klugheit. „Für mich war das amerikanische Fernsehen niemals besser, als es das jetzt gerade ist“, erklärt Frank Spotnitz und stimmt der Entwicklung zu: „Was schade ist, da wir alle diesen fantastischen Serien haben. Ich vermisse den großen, übergreifenden kulturellen Dialog.“ Bei „Akte X“, sagt Spotnitz, „konnten wir uns darauf verlassen, dass es am nächsten Tag alle gesehen hatten und darüber geredet haben. Das gibt es so nicht mehr.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen