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■ Journalisten kritisieren Journalisten: Skandalöse Berichterstattung über Blut, Aids und BGABlutpolitik und Medien-GAU

Aids war schon immer eine explosive Mischung. Es geht nicht nur um ein Virus, eine Krankheit, Sex, Drogen und Tod – Emotionen spielen mit. Und zugegebenermaßen sind die wissenschaftlich- medizinischen Zusammenhänge kompliziert, auch für Journalisten.

Das Bundesgesundheitsamt (BGA) hat in der Vergangenheit zahlreiche Anlässe zur Kritik geliefert. Verflechtungen mit der Industrie, verschlafene Reaktionen, verfilztes Bürokratentum. Und jetzt auch noch ein „Aids-Skandal“. Die Verführung ist groß, nicht mehr zu differenzieren, auch für Journalisten.

Journalisten haben die Aufgabe, zu berichten und zu kommentieren. Journalismus selbst ist in der Regel nicht Gegenstand der Berichterstattung. Die Vermeldung von Nabelschau und Besserwisserei hat im Journalismus gute Tradition. Aber in seltenen Ausnahmefällen gebieten es publizistische Selbstkritik und Ethik, auf Mißstände in den eigenen Reihen aufmerksam zu machen, und zwar unabhängig von persönlichen politischen Standpunkten. Was in zahlreichen Medien in den vergangenen Wochen über BGA und Bundesgesundheitsministerium, über HIV und Blutprodukte, über Aids und Hämophilie geschrieben wurde, ist in unseren Augen ein solcher Fall – ein Medien-GAU.

Die Faktenlage: Es ist unterdessen wahrscheinlich, daß in der Zeit bis 1985 Ärzte, Industrie, Blutbanken, Behörden und Politik schneller und rigider auf die Übertragung des Humanen Immundefekt Virus hätten reagieren und damit die Infektion zahlreicher Menschen durch Bluttransfusionen und Blutmedikamente verhindern können. Es ist wichtig, daß jetzt die Frage untersucht wird, welche Mechanismen für verspätete Reaktionen verantwortlich waren, um eine Wiederholung auf anderen medizinischen Gebieten zu verhindern. Beschämend ist unseres Erachtens auf jeden Fall, wie die Verantwortlichen mit Infizierten vor allem in der Frage der Entschädigung umgegangen sind. Aber es gibt auf jeden Fall keinen neuen Aids-Skandal. Die Liste der 373 Arzneimittel-Nebenwirkungen, die für den Bundesgesundheitsminister Anlaß zu personellen Konsequenzen und zur Auflösung des BGA waren, hat keinerlei neue Erkenntnisse gebracht. Sämtliche Daten waren öffentlich. „Geheimfälle“ hat es nicht gegeben.

Die „zweite Charge“ eines angeblich HIV-verseuchten Blutpräparates, die zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage zu einem „Aids-Skandal“ führte, stammte aus dem Jahr 1983. Bewiesen war lediglich, daß im „Ausgangsmaterial“, also im Spenderblut, HIV war. Nicht nachgewiesen ist, daß sich im fertigen Produkt krankmachende Erreger befanden und irgendwer angesteckt worden ist. Kein einziger Fall einer HIV-Infektion konnte bislang auf diese Herstellungseinheit zurückgeführt werden.

Die Berichterstattung: Kaum jemand in Politik und Publizistik hat sich der Mühe unterzogen, die hektischen Bekanntmachungen von Bundesgesundheitsminister Seehofer zu überprüfen. Statt dessen wurde permanent gegen den Ehrenkodex des Deutschen Presserates verstoßen, der ungerechtfertigte Panikmache untersagt. Hier ist nicht einmal mehr eine Unterscheidung zwischen „seriösen“ und „unseriösen“ Medien möglich. Bild und ARD, die Woche und Privatfernsehen, regionale Abonnement-Zeitungen und einige überregionale Blätter Hand in Hand, unterstützt von selbsternannten „Pharma-Kritikern“ und instrumentalisiert von Politikern.

Einige Beispiele: die Tagesthemen: „Tausende wurden zu Tode gespritzt“, durch Blutprodukte, wohlgemerkt in den letzten Jahren, und liefen unerkannt HIV-infiziert herum. Zahlreiche Zeitungen titeln: „Aids-Infektionen durch Blutkonserven jahrelang verschwiegen“, oder „HIV-Skandal im Berliner BGA“ oder „Das Bundesgesundheitsamt als Bermudadreieck“. Das Privat-TV redet über „Frankenstein“. Zeitungen zitieren „Pharma-Kritiker Möbius“, der 90 weitere Geheimfälle kennen will, ohne sie vorzulegen. Der Spiegel: „Der Aids-Skandal – Tödliches Blut“. Die Woche: „Aids auf Rezept“. Der Stern: „Tod auf Rezept“. Wenig später werten es viele Medien als dritten „Aids- Skandal“, daß laut jüngster BGA- Statistik „nicht nur 373, sondern weit über 2.000 Menschen über Blut mit HIV infiziert wurden“ (obwohl die Quelle nichts anderes war als die seit eh und je routinemäßig publizierte Statistik des Aids-Zentrums).

Selbst der Selbstmord eines BGA-Wissenschaftlers vor vielen Jahren wird mit den aktuellen Ereignissen in Zusammenhang gebracht – auch dafür liegen keine Fakten vor. Und tatsächliche wie vermeintliche, jedenfalls allesamt Jahre bis Jahrzehnte zurückliegende „BGA-Skandale“ werden „aufgedeckt“ (wiewohl seinerzeit längst beschrieben und kritisiert). Sowohl die Mitverantwortung vorgesetzter Minister als auch die Notwendigkeit einer unabhängigen, politikfernen und mit Kompetenzen ausgestatteten fachübergreifenden Behörde zum gesundheitlichen Verbraucherschutz fallen unter den Tisch.

Uns ist es nicht darum zu tun, Fehler des Bundesgesundheitsamtes zu verharmlosen. Uns geht es in diesem Zusammenhang auch nicht darum, die Aktivitäten des Bundesgesundheitsministers zu werten.

Einige von uns haben selbst die Erfahrung gemacht, daß unsere publizistischen Auftraggeber teils mühsam, teils gar nicht zu überzeugen waren, daß es mit dem Nachbeten von Vorurteilen nicht getan und daß es mit journalistischem Selbstverständnis nicht zu vereinbaren ist, Bürger und Patienten in tiefste Ängste zu stürzen, für die kein sachlicher Grund vorhanden ist. In den ersten Tagen waren Schwierigkeiten bei der Recherche und der Einordnung von Fakten angesichts journalistischer Produktionsbedingungen teilweise verständlich. Aber schon längst wäre Zeit gewesen, Lesern, Hörern und Zuschauern zu ihrem Recht zu verhelfen – ihrem Recht auf sorgfältige Information, gerade wenn es um die Gesundheit geht.

Dies ist nur zu geringen Teilen geschehen. Wir möchten unser Erschrecken darüber weitergeben und einen Prozeß des Nachdenkens anregen.

Hans Harald Bräutigam (Die Zeit),

Winfried Göpfert (Publizist an der FU Berlin und freier Journalist),

Manfred Kriener (freier Journalist),

Kuno Kruse (Die Zeit),

Herman Müller (freier Journalist und Berliner Korrespondent der „Ärztezeitung“),

Barbara Ritzert (freie Wissenschaftsjournalistin),

Rosemarie Stein (freie Medizinjournalistin),

Justin Westhoff (freier Wissenschaftsjournalist)

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