■ Jospins republikanischer Pakt – ein Angebot an den Citoyen: Die Rückkehr der Politik
Moral, Wahrhaftigkeit, Anstand sind bei Lionel Jospin Stichworte mit großem Wiedererkennungswert. Dem strengen Protestanten nehmen die von ihren Politikern an jede Art Eitelkeit, Machtmißbrauch, Kumpanei und Betrug gewöhnten Franzosen ab, daß er dieses Bekenntnis ernst meint. Vielleicht, weil er dem Glanz der Mitterrand-Ära aus Überzeugung trotz persönlicher Nachteile widerstanden hat. Vielleicht, weil er nicht behauptet, daß er die Lösung hat, sondern sagt, daß er danach sucht. Oder ganz einfach, weil er nach seinem überraschenden Wahlsieg nicht in Triumphalismus ausgebrochen ist.
Politisch enthält Jospins Regierungserklärung wenig entscheidene Neuerungen – abgesehen von dem im Wahlkampf versprochenen Ausstieg aus dem Schnellen Brüter und der Abschaffung der Pasqua- Debré-Gesetze zur Immigration. Seine Reformvorhaben für den Arbeitsmarkt nehmen sich eher bescheiden aus, mißt man sie an der erwarteten Ankurbelung der Kaufkraft durch die Anhebung des Mindestlohns und an der erhofften schnellen Arbeitszeitverkürzung.
Die Stärke der Regierungserklärung liegt in dem Versuch, die citoyens als Akteure zurückzugewinnen und ihr zerstörtes Vertrauen in Politik und Staat wiederherzustellen. Wie es sonst Neogaullisten tun, bemühte der Sozialist die Geschichte und die verbindenden Essentials von république und nation. Zusätzlich aber sagte er die Beseitigung uralter Demokratiedefizite zu: eine Justiz, die nicht mehr von der Regierung gegängelt werden wird; die automatische Aufnahme ins Wählerverzeichnis im Alter von 18 Jahren; das Ende der Ämterhäufung. Im Gegenzug forderte er die citoyens zu „Bürgerbeteiligung“ und zu politischem Engagement auf.
Die Rechnung könnte aufgehen. Mit ihrer Wahlentscheidung haben die citoyens klar den Wunsch nach Kontrolle des zuvor allmächtigen RPR-Staats gezeigt. Der Machtwechsel selbst hat zahlreiche Wünsche auf Veränderung der verkrusteten Strukturen der Firma Frankreich freigesetzt. Jetzt hoffen sie auf die Rückkehr zur Politik.
Der „republikanische Pakt“, von dem Jospin spricht, ist für die citoyens ein Angebot. Für die rot- rosa-grüne Regierung aber ist er eine Verpflichtung. Wenn sie der von ihr erwarteten Moral und der Erneuerung des Landes nicht entspricht, wird sie schneller stürzen, als ihre Vorgängerin. Eine republikanische Alternative gäbe es dann nicht mehr. Die citoyens blieben als Waisen zurück. Dorothea Hahn
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