Jorge Semprún 87-jährig gestorben: Meine Heimat ist das Sprachvermögen
Der spanische Schriftsteller Jorge Semprún ist am 8. Juni in Paris im Alter von 87 Jahren gestorben. Sein literarisches Credo lautete: Diskurs ist Leben!
Die Geburt des großen Schriftstellers Jorge Semprún begann mit dem Roman "Le Grande Voyage (1963) (auf deutsch "Die große Reise" 1981). Sie verläuft parallel zu den Auseinandersetzungen in der spanischen KP, konkret Semprúns Forderungen nach innerer Demokratisierung der Partei, die dann zu seinem Ausschluss führt. Wer heute Spaniens Gegenwart und Vergangenheit, wer die politisch-kulturellen-gesellschaftlichen Zusammenhänge Europas seit 1930 begreifen möchte, sollte Semprún lesen.
Jorge Semprún, 1923 in Madrid als Kind einer linksliberalen, großbürgerlichen Familie geboren, zählt zweifelsohne zu den Europäern des 20. Jahrhunderts, die ein außergewöhnliches Schicksal haben. Es beginnt damit, bereits als Kind mehrere Sprachen, unter anderem Deutsch, zu lernen, später dann die Erfahrungen von Buchenwald, jene grauenvollen, schrecklichen Erfahrungen im deutschen Konzentrationslager, die auf den politischen Kampf im Widerstand gegen die deutsche Besatzung in Frankreich folgen, dann die Auferstehung des Überlebenden, die Entscheidungen über die Existenz - das "Sein zum Tode" - das Leben im Exil und Untergrund im Kampf gegen die Franco-Diktatur. Schließlich nach Francos Tod der erste Kulturminister unter der monarchistisch-demokratischen Regierung von Felipe Gonzáles zu werden.
Der Sprachstil
"Für mich ist die Heimat des Schriftstellers nicht die Sprache, sondern der Sprachstil", lässt Semprún den jungen Intellektuellen Lorenzo Avendaño in "Zwanzig Jahre und ein Tag" (2005), sagen. Der Roman spielt zwischen 1936 und 1985, dem Beginn des spanischen Bürgerkriegs der langen Franco-Diktatur, die auch nach dem Tod des Generals 1975 noch fortwirkt, bis zum Übergang zur Demokratie 1985, als die Zeitschrift "Cambio 16" ihre Leser mit der spektakulären Wahrheit konfrontierte: "Franco, das sind auch Sie".
Der Roman fokussiert die Jahre 1954 und 1956, entscheidende politische Momente für die Arbeit Semprúns im spanischen Untergrund unter dem Pseudonymen wie Federico Sánchez. Überhaupt bieten seine Romane eine Enzyklopädie des intellektuellen Lebens des modernen Spanien von der Generation der Lehrer Luis Buñuels und Federico García Lorcas, Américo Castro (Historiker), über die großen Dichter der "Generation 27" Jorge Salinas, Miguel Hernández, José Bergamín, Juan Larrea, die Philosophin Maria Zambrano, bis zur Generation Federico Sánchez, deren Vertreter im Moment des spanischen Bürgerkriegs so alt waren wie Sophie Scholl und jünger.
1994 anlässlich der Friedenspreisverleihung des Deutschen Buchhandels formulierte Semprún sein schriftstellerisches Bekenntnis. "Letztlich ist mein Vaterland nicht die Sprache weder die spanische noch die französische: Mein Vaterland ist das Sprachvermögen. Das heißt ein Raum sozialer Kommunikation und linguistischer Möglichkeiten; es gibt die Chance, das Universum darzustellen, es auch zu ändern, wenngleich dies nur ganz wenig oder am Rande geschehen kann."
Die Rolle, die Semprún nicht der Sprache, wie Thomas Mann, sondern dem Sprachvermögen zuschreibt, steht direkt in Verbindung mit dem Schlüssel zum Schreiben und Leben Semprúns. In fast allen Romanen haben wir es mit einem Erzählertypus zu tun, der ein "l'homme-mémoire", ein Mensch-Gedächtnis ist: eine abgewandelte Form der Erzählerfigur des "l'homme récits" (Mensch-Erzähler), wie ihn die strukturalistische Literaturwissenschaft in den 1970er Jahren einführte. Die Gleichung lautete: Diskurs ist Leben. Ende des Diskurses bedeutet Schweigen und Tod. Der "Mensch-Erzähler" wurde zum Topos in der Literaturwissenschaft und in verschiedenen Formen von Maurice Blanchot bis zu John Barth durchgespielt.
Was ist die wichtigste Lektion dieses "Mensch-Gedächtnis"? Die Unmöglichkeit zwischen individuellem und sozialem Gedächtnis zu unterscheiden. Der Roman zeigt, dass das individuelle Gedächtnis radikal sozial ist und Vergangenheit eben auf diese Weise definiert wird: diese existiert nur als soziales Konstrukt. Folgen wir dem Denken Semprúns so wird das Vergangene nur in dem Maß in der Erinnerung rekonstruiert, in dem es notwendig ist. Erinnern ist in dieser Theorie ebenso wichtig wie Vergessen.
Genau das lehrt Semprún seine Leser mit seinen Romanen. Er hat diese Lehre von seinem ehemaligen Professor an der Sorbonne, dem Soziologen Maurice Halbwachs. Dieser große Theoretiker des sozialen und kollektiven Gedächtnisses wurde wie Semprún in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert, wo er 1945 starb. Mit L' Ecriture ou la vie (1994) hat Semprún Halbwachs ein Denkmal gesetzt. Semprún übernimmt die Aufgabe, mittels Sprache und Erzählung Gedächtnisvermögen zu konstruieren.
Kein Dollarkonto
2007 entwickelte er in seiner Potsdamer Universitätsrede diese Reflexionen in einer "Philosophie der Überlebenswissenschaft". 1989, noch vor dem Mauerfall, führte der Journalist Fritz J.Raddatz mit Semprún ein Gespräch in dem es um die Schlüsselprobleme des Exilanten, um Sprache, Kultur, Staatsbürgerschaft, politische Rechte ging. Semprúns Kommentar zum leidigen Vergleich mit Bertold Brecht: "Der Unterschied: Ich hatte weder einen österreichischen Paß noch einen westdeutschen Verleger noch ein Dollarkonto. Ich war nichts als ein spanischer Untergrundkämpfer. Ich habe den Intellektuellen in mir verabschiedet, aber ich habe gleichzeitig etwas riskiert. Das ist nur eine Kleinigkeit, aber es macht einen Unterschied. Es war kein Gesellschaftsspiel, es war Risiko".
Befragt über seine Erfahrungen in Buchenwald, genauer, von seinem Transport nach Buchenwald 1943 bis zur Eingliederung in das Leben in Frankreich nach dem Krieg bemerkte Semprún 1989: "Meine eigene Reaktion war: Heilung durch Vergessen. Aber diese Heilung führte zur Politik. Politik ist immer Zukunft". Am Abend des 8. Juni ist Jorge Semprún im Alter von 87 Jahren in Paris gestorben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs