Jonathan Gerbig übrigens: Es heißt ja schließlich nicht „Work-Life-Abgrenzung“
Bis Ostern sollten die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sein. Daraus wird wohl nichts. Die SPD macht es der Union aber auch wirklich schwer. Schon gegen die Berechnung der Standardrente auf Grundlage von 47 statt 45 Beitragsjahren legt sie Protest ein. Als würden zwei Jahre den Unterschied machen.
Dabei ist doch klar, dass die Rentner*innen auch ihren Teil zum Wirtschaftswachstum beitragen müssen, genauso wie kranke Arbeitnehmer*innen. So ist die Wiedereinführung des unbezahlten Karenztags auch so eine großartige Idee: Entweder die Arbeitnehmer*innen springen zum Wohle aller über ihren verschnupften Schatten und treten gefälligst zum Dienst an. Oder sie haben einen Tag, an dem sie sich um wirklich gar nichts kümmern müssten – nicht einmal um die große Last des Bezahltwerdens.
Man könnte natürlich auch die Möglichkeiten der Work-Life-Balance ergründen. „Balance“ heißt ja nicht „Abgrenzung“, vielleicht lässt sich eine gesunde Mischung aus Arbeit und Freizeit finden: entspannt über alle 24 Stunden des Tages verteilt. Zoommeetings schon beim Frühstück. Man kann auch bei gemeinsamen mitternächtlichen Fressattacken prima den nächsten Tag planen – nur Vorsicht, dass das obligatorisch laute „Hört man mich?“ zum Start des Onlinemeetings nicht die Kinder oder die Mitbewohner*innen weckt. Warum Teambildung nicht im Fitnessstudio? Was ist schon so ein Nullsatz wie „Du machst einen tollen Job“ gegen das zusammenschweißende Live-Erlebnis, bei dem man Kolleg:innen bei den Kniebeugen unter die feuchten Achseln greifen kann?
Jonathan Gerbig
ist Masterstudent am Journalistischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Wer braucht schon Freund*innen, wenn die Kolleg*innen 24/7 so nah sind, dass man ihr letztes Abendessen in der Luft schmeckt? Wer soll man noch mit einer Beziehung, wenn man rund um die Uhr mit den „Work spouses“ verbringen kann? Wenn man immer zusammen, erreichbar, produktiv ist – wenn immer Arbeit ist, ist dann nicht auch immer Freizeit?
Eine tolle Vorstellung. Es ist doch nichts heilsamer, als rund um die Uhr mit den Lieblingsmenschen der Lieblingsbeschäftigung nachzugehen. Wer braucht da zeitfressenden Quatsch wie Therapie, Viertagewochen, Gleitzeit? Die schaden nicht nur der persönlichen Produktivität, auch gesellschaftlich ist die Wirtschaftsleistung einfach wichtiger als gesunde Arbeitnehmer*innen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen