Joachim Gauck: Der Menschenfischer

Joachim Gaucks Entwicklung vom Pastor zum Präsidenten folgt einer Logik. Die Spurensuche beginnt in Rostocker Plattenbauten.

Weitaus mehr als nur präsidial: Der Menschenfischer schaut nach oben. Bild: dapd

Zwischen grasbewachsenem Erdaushub steht ein junger Mann, hält sich mit beiden Händen am Revers seines braunen Ledersakkos fest und spricht in die Kamera. Er erinnert an einen Kriegsreporter, der aus einem Einsatzgebiet berichtet. Hinter ihm zeichnen sich treppenartige Plattenbauten ab. „Eines von fünf Neubaugebieten im Rostocker Nordwesten“, sagt Joachim Gauck mit rollendem R. „Knapp 30.000 Einwohner. In diesem Stadtteil bin ich Gemeindepastor.“

Eine Szene aus dem Film „Christen ohne Privilegien. Kirchlicher Alltag in Mecklenburg“, der im Archiv des Norddeutschen Rundfunks verstaubt. Pastor Gauck befindet sich in einer Krisenregion. Er ist 1970 hergekommen, um dieser gottesfernen Gegend Spiritualität einzuhauchen. Denn eine Kirche ist in der sozialistischen Utopie aus Beton nicht vorgesehen.

„Wir müssen neue Versuche machen, mit den Menschen in Kontakt zu kommen. Wie tun wir das? Wir gehen zu den Menschen, wir gehen in ihre Wohnungen, wir reden eher mit ihnen, als dass wir ihnen predigen.“ Den Konfirmanden- und Christenlehre-Unterricht verlegt der Pastor teilweise in die eigenen vier Wände. Die Familie Gauck ist darüber nicht beglückt.

Joachim Gauck wird am 24. Januar 1940 in Rostock geboren. Er studiert Theologie. Ab 1982 leitet er die Kirchentagsarbeit in Mecklenburg. 1988 spricht er auf dem Kirchentag in Rostock.

Er leitet 1989 die wöchentlich stattfindenden Gottesdienste zur Veränderung der Gesellschaft.

1990 wird er Abgeordneter der DDR-Volkskammer des Neuen Forums und im gleichen Jahr Vorsitzender des Sonderausschusses zur Überprüfung der MfS-Auflösung.

Am 3. Oktober 1990 wird er erster Sonderbeauftragter für die Stasiunterlagen. Dies bleibt er zwei Amtszeiten bis 2010. Einen Vorstoß der CDU 1999, ihn als Gegenkandidaten bei der Präsidentschaftswahl des SPD-Politikers Johannes Rau antreten zu lassen, lehnt Gauck ab.

Nach dem vorzeitigen Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler nominieren ihn SPD und Grüne 2010. Sein Konkurrent Christian Wulff setzt sich erst im dritten Wahlgang durch.

Nach Wulffs Rücktritt wird Joachim Gauck 2012 Kandidat von Regierung, SPD und Grünen. Die Linken treten mit Beate Klarsfeld an. Die Bundesversammlung tritt am 18. März zusammen.

Die eigenen Zweifel überwinden

Schon der Umzug vom malerischen Lüssow nach Rostock-Evershagen machte zu schaffen. Aber das Familienoberhaupt bestimmt es so. Arbeit und Pflichterfüllung stehen für den bürgerlichen Protestanten an erster Stelle. Schon nach zwei Jahren gibt es den ersten Kirchengemeinderat in Rostock-Evershagen.

Dabei musste sich der gut aussehende Mann mit seiner Rolle als Pastor erst anfreunden und eigene Zweifel überwinden. Gauck leistet nicht nur Aufbauarbeit im Namen des Herrn. Er entdeckt als Pastor bei sich Fähigkeiten, die ihm bis dahin unbekannt waren. Gauck kann sich in andere Lebenswelten einfühlen und vermag es, anschaulich zu sprechen und für die Sorgen der jungen Menschen als Stadtjugendpfarrer die richtigen Worte zu finden.

„Gauck war sehr nahe bei den Problemen seiner Gemeinde und hatte einen sehr direkten Kontakt“, sagt Christoph Kleemann heute, der ab 1976 als Studentenpfarrer in Rostock arbeitete. Selbst kritische Kollegen von damals beschreiben Gaucks ausgeprägtes Empathievermögen. Er entwickelt daraus sein Talent, Menschen für sich einzunehmen.

Den Vater weggenommen

Ursprünglich wollte Joachim Gauck Journalist werden. Doch Germanistik darf er nicht studieren, und die Presse gehört in der Diktatur zu den Stützen des Regimes. Nichts für Gauck. Die DDR empfindet er als Unrechtsstaat, denn die Kommunisten nehmen dem Elfjährigen seinen Vater weg. Am 27. Juni 1951 verschwindet der ehemalige Kapitän und Arbeitsschutzinspektor der Rostocker Neptun-Werft mit zwei Männern in einem blauen Opel. Offiziell zur Klärung eines Unfalls.

Tatsächlich verschleppen Mitarbeiter der sowjetischen Geheimpolizei den 45-jährigen Familienvater in ein sibirisches Straflager nahe der Stadt Ulan Ude am Baikalsee. Er wird zu zweimal 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Erst zwei Jahre später erfährt die Familie, was mit dem Vater überhaupt geschehen ist. Der wird 1955 infolge eines Besuchs von Konrad Adenauer in Moskau begnadigt.

Für den heranwachsenden Gauck klingen die Reden seiner Lehrer vom Sozialismus jetzt hohl. Mit diesem Staat ist die ganze Familie fertig. Gaucks Mutter untersagt den Kindern die Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend. Als Joachim wegen seiner Schulnoten mit dem „Abzeichen für gutes Wissen“ ausgezeichnet wird, verpasst sie ihm eine Ohrfeige. Gauck schreibt in seinen Memoiren: „Das Schicksal unseres Vaters wurde zur Erziehungskeule.“

Bedingungsloser Antikommunist und Rechtspurist

Aus der Erfahrung von Machtlosigkeit und staatlicher Willkür zieht Joachim Gauck zwei Schlüsse: Er wird ein bedingungsloser Antikommunist, und er entwickelt in den folgenden Jahren ein puristisches Verständnis vom Rechtsstaat. Gauck hat erfahren: Auch wer Gutes will, ist zu Schlechtem fähig. Der Wunsch, sich für das Richtige einzusetzen, kann das Falsche befördern. Wichtiger als idealistische Ziele oder Utopien sind die überprüfbaren Regeln eines Rechtsstaats. Diese Auffassungen verfolgt er mecklenburgisch stur.

Das ist einer der Gründe dafür, warum Joachim Gauck heute in den Parteilagern aneckt, denn seine Prinzipien lassen sich nicht eindeutig auf einer politisch geeichten Skala einordnen. Seine Äußerungen folgen maßgeblich diesen beiden Prinzipien, sind zumeist Schlussfolgerungen seiner Biografie.

Linken wie Konservativen gilt er deswegen als unberechenbar, sein pastorales Pathos unterscheidet sich vom Politikersprech und löst Befremden aus. Gauck ist es nach seinen Erfahrungen in der DDR zuwider, sich anzupassen, vereinnahmen zu lassen oder einer politischen Richtung unterzuordnen. Deswegen nennt er sich einen „linken konservativen Liberalen“.

Mehr Ethnologe, denn Pfarrer

In den Welten, in denen sich Gauck bewegt, bleibt er immer ein Fremder. Ein Bürgerlicher in einem Arbeiter-und-Bauern-Staat, ein Ostdeutscher, der vom Westen träumt, ein Mann Gottes in einer atheistischen Gesellschaft und ein Pfarrer, für den theologische Fragestellungen nie vorrangig sind, wie Hartmut Dietrich bemerkt, ein Pastorenkollege aus Rostocker Zeiten. Gauck nähert sich diesen Welten eher wie ein Ethnologe.

Nur die kirchlichen Enklaven ermöglichen in der DDR das Mindestmaß an Freiheit, das Joachim Gauck benötigt, um weiter in diesem Staat bleiben zu können. Im Übrigen ist es bei den Pastoren verpönt, die Gemeinde zu verlassen und rüberzumachen. Einer mit einem ausgeprägten Arbeitsethos wie Gauck ist dazu praktisch nicht in der Lage.

Gauck bleibt in der Fremde des Ostens und entwickelt als Reaktion darauf ein dogmatisches und fast religiöses Verständnis von Rechtsstaatlichkeit. Wenn seine Kollegen darüber diskutieren, die DDR zu reformieren, ist Gauck anderer Meinung. Dem stets akkurat gekleideten Mann bleibt später auch alles Spontihafte suspekt. Gauck ist Opponent, nicht Dissident. Das zeigt sich 1990, als er mit denen in Konflikt gerät, deren Interessen er eigentlich teilt.

Am 4. September besetzen 21 Bürgerrechtler die Stasizentrale in Berlin-Lichtenberg. Es ist nach der Erstürmung im Januar die zweite Eroberung des DDR-Machtapparats. Bärbel Bohley und andere treten in den Hungerstreik. Sie spannen Transparente zwischen den Fenstern: „Besetzt. Die Akten gehören uns.“ Ihre Aktion ist getragen von der Furcht, dass das Erbe der Staatssicherheit vernichtet werden könnte. Sie liegen richtig.

Alle wollten die Stasi-Akten loswerden

Es ist die Zeit des Übergangs. Im Februar 1990 gestattet der runde Tisch die Vernichtung aller Tonträger des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mit personenbezogenen Daten; ebenso überlässt er es auch der Auslandsabteilung der Staatssicherheit, sich selbst aufzulösen. Fast alle Akten werden vernichtet. Auch die Bonner Regierung unter Helmut Kohl will das Material loswerden. Die MfS-Dossiers versetzen die CDU in Angst und Schrecken.

Zeitschriften veröffentlichen bereits Telefonmitschnitte der Stasi von Westpolitikern. Die Innenministerkonferenz beschließt daraufhin eilig, diese Mitschnitte durch den Verfassungsschutz zu konfiszieren. Die Aktenvernichtung setzt sich im Westen fort.

Joachim Gauck ist inzwischen von der DDR-Volkskammer zum Vorsitzenden des neuen Sonderausschusses zur Kontrolle und Auflösung des Staatssicherheitsdienstes ernannt worden. Hier agierte er sehr geschickt, sagt Uta Leichsenring, die damals im Ausschuss arbeitete und heute die Außenstelle der Stasiunterlagenbehörde in Halle leitet.

Scheinwerfer auf Gauck

Der Sonderausschuss enttarnt die OibE, „Offiziere im besonderen Einsatz“, die verdeckt an Schlüsselstellen der DDR-Gesellschaft weiterarbeiten, als das MfS schon aufgelöst ist. Ein Skandal. Dem Sonderausschuss, der bei dieser Aufdeckung seine Befugnisse weit überschreitet und mit DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel aneinandergerät, ist ein Coup gelungen. Die Scheinwerfer richten sich jetzt auf Joachim Gauck.

Ein Volkskammergesetz verfügt die „Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS“. Doch die Regierung von Helmut Kohl will das Gesetz nicht in den Einigungsvertrag aufnehmen. Sie bildet eine Allianz gegen die Interessen der Revolutionäre. In einem Fax eines Mitarbeiters von Innenminister Wolfgang Schäuble an das DDR-Innenministerium verständigt man sich auf eine „differenzierte Vernichtungsregelung“.

Aus Protest besetzen die Bürgerrechtler jetzt die MfS-Zentrale. Doch Joachim Gauck, der wie Bärbel Bohley das Erbe der SED-Diktatur bewahren will, distanziert sich von ihrer Aktion. In einem demokratischen System hätten sich alle an die Gesetze zu halten, sagt Gauck. Eine außerordentliche Position in diesem Moment.

Bei den westdeutschen Politprofis kommt das an. Der Pragmatismus des Bündnis-90-Abgeordneten weckt mehr Vertrauen als die Rauschebärte und lautstarken Frauen, die sich im Hungerstreik befinden. Die gelten den Westlern als politikunfähig, wie Christian Booß rekapituliert, der seit Jahren in der Stasiunterlagenbehörde arbeitet.

Biermann als Fürsprecher

Für die Revolutionäre ist Gauck ein Opportunist, dem es nur um die eigene Karriere geht. Einer aber macht sich für ihn stark: „Ich habe den Eindruck, dass Gauck kein Schwein ist, dass er ehrlich ist und sich Mühe gibt“, sagt der Liedermacher Wolf Biermann, der zu den Besetzern gehört und dessen Wort besonders gilt.

Es gelingt dem Sonderausschussvorsitzenden Gauck, die Regierungsparteien auf seine Seite zu ziehen. „Ich habe versucht, mit einer historischen Rückblende einen Konsens zu erzeugen. Ich habe die Abgeordneten gefragt: Wollt ihr es haben wie unter Adenauer: einen Globke im Kanzleramt? Oder wollen wir aus der Geschichte gelernt haben? Und, nun ja, alle wollten aus der Geschichte gelernt haben.“ Das sagt Gauck im Dezember 2011 im Gespräch mit der taz. Er nennt diese Zeit „meine wichtigste Phase“.

Nahezu in letzter Minute, am 18. September 1990, ist durch eine Zusatzklausel im Einigungsvertrag die Rettung der Stasiakten gesetzlich sichergestellt.

Der Überwältigungsstrategie des Westens getrotzt

„Bärbel Bohley hat später immer so getan, als wäre die Besetzung der Stasi mit dem Hungerstreik die entscheidende Wende gewesen“, sagt Gauck ebenfalls der taz. Vermutlich spielte sein diplomatisches Geschick im Umgang mit den Bonner Politikern eine größere Rolle. „Gauck hat der Überwältigungsstrategie des Westens getrotzt“, sagt Booß.

Es war einer nötig, der aus der DDR kam, in Opposition zur Diktatur stand und sich zugleich auf politischem Parkett zu bewegen wusste. Gauck schuf Vertrauen – aufseiten der Revolutionäre wie des Westens.

Sein politisches Geschick und sein rhetorisches Talent sind ihm 1990 nicht in den Schoß gefallen. Gauck entwickelt es im Umgang mit den einfachen Leuten schon in Rostock-Evershagen. Selbst ein ehemaliger Pastorenkollege wie Hartmut Dietrich, der auch kritische Worte zu Gauck findet, sagt: „Viele haben ihn als Ermutiger erlebt.“

Gesund und erfrischend frech

Gauck setzt sich besonders für drei Jugendliche ein, die ins Visier der Stasi geraten. Das hatte für die jungen Leute Signalwirkung, erinnert Christoph Kleemann, der ehemalige Studentenpfarrer. Ohne zu zögern, begleitet Gauck auch Kleemann zur Stasi, als der wieder Ärger mit dem Apparat hat. Das habe Gauck von konformen Pastoren unterschieden, sagt Kleemann. „Ich habe ihn als gesund frech erlebt. Er überzog gerne. Das ist erfrischend in einer Diktatur.“ Die Stasi bezeichnet Gauck in seiner Akte als „unbelehrbaren Antikommunisten“ mit „anmaßendem und frechem Auftreten“.

In einer Gesellschaft, in der schon Schüler nicht frei sprechen dürfen, kommt es nicht von ungefähr, dass später gerade Pastoren als Politiker Karriere machen. Nur sie haben es gelernt, öffentlich zu sprechen, und sind durch die protestantische Diskurskultur geschult, sagt die ehemalige Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe, die als Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen in Brandenburg tätig ist.

Auch Gauck schreibt in seiner Autobiografie: „In der Begegnung mit den Gemeindemitgliedern aber habe ich die Angst verloren, vom Zweifel verschlungen zu werden. Ich konnte geistlich wachsen und selbst etwas ausstrahlen.“

Das alte Leben abstreifen

Durch sein diplomatisches Geschick besorgt sich Gauck 1990 auch eine „Eintrittskarte für das westdeutsche Establishment“, so Booß. Wer künftig die neu zu schaffende Stasiunterlagenbehörde leiten wird, ist klar.

Die öffentliche Person Gauck entsteht. Er trennt sich von seiner Frau, zieht dauerhaft nach Berlin. Er streift sein altes Leben ab und beginnt ein neues. Der Konflikt mit einigen ehemaligen Regimegegnern der DDR, die jetzt sagen, Gauck sei kein Bürgerrechtler gewesen, wurzelt in dieser Phase. Ulrike Poppe, die im September 1990 selbst auf der Seite der Stasibesetzer stand, ist dagegen überzeugt: „Gauck war während der Revolution einer der entscheidenden Protagonisten.“

Aber auch sie hat mit ihm Streit, als die Stasiunterlagenbehörde gerade ihre Arbeit aufnimmt. Es geht um die Einstellung von Stasimitarbeitern, und gerade Gauck, der Mann, der die Akten gerettet hat und mit Manfred Stolpe und Gregor Gysi Klartext redet, setzt sich für ehemalige MfS-Offiziere in der Behörde ein. Er hält ihre Expertise für das Verstehen der Systematik des MfS für unverzichtbar.

Der Beirat, in dem auch Poppe sitzt, plädiert dafür, nur Honorarverträge für die hochrangigen Offiziere zu vergeben. Diese wären irgendwann ausgelaufen. Die Festanstellung aber führt zu Kontroversen, die die Behörde bis heute verfolgen. Selbst führende Mitarbeiter in der Stasiunterlagenbehörde sagen, Gauck habe sich an dieser Stelle sehr schlecht beraten lassen.

Große Linien, große Fragen

Gauck ist auf Berater angewiesen, denn ihn interessieren kleinteilige Sachfragen nicht. Deswegen vertraut er auf wenige, aber langjährige Vertraute. David Gill etwa, der künftig das Bundespräsidialamt leiten wird. Als Behördenchef delegiert Gauck vieles an seine Mitarbeiter, lässt in Ausschüssen seine Fachreferenten reden. Er selbst pflegt dann ein politisches Resümee zu ziehen, erinnert sich Herbert Ziehm, einer der ersten Mitarbeiter der Stasiunterlagenbehörde, den Gauck einstellt.

Gauck geht es um die großen Linien und die großen Fragen. Deswegen macht er wieder, was er am besten kann: Er reist, redet und nutzt sein Charisma, um für die Aufarbeitung zu werben. Er verankert die Behörde als Institution in Deutschland. Seine zunehmende Prominenz begeistert auch die Mitarbeiter in der Behörde, die schließlich sogar seinen Namen trägt. Oft sei er von einem freudigen Schwarm Menschen umgeben gewesen, wenn er durch die Flure lief. „Vom Pförtner über den Fahrer bis zum Abteilungsleiter“, sagt Booß.

Wie er Menschen fesseln kann, begreift Gauck spätestens auf dem Kirchentag 1988 in Rostock, den er organisiert. Er spricht offen über Ausreise und mit seinem Satz „Wir werden bleiben wollen, wenn wir gehen dürfen“ schafft er es bis ins ZDF. „Das war seine Initialzündung, alle verdeckten Gaben sind erwacht“, sagt Hartmut Dietrich.

Missionar der Rechtsstaatlichkeit

Als Gauck im Jahr 2000 die Behörde verlässt, verschmelzen der Pastor und der Politiker Gauck zum Missionar der Rechtsstaatlichkeit. Er entwickelt Sendungsbewusstsein und wird in den folgenden Jahren zum Verkünder von Freiheit und Demokratie. Manche fürchten, für einen Bundespräsidenten sei dieses Thema zu begrenzt. Christoph Kleemann sagt, Gauck sei äußerst versiert darin, neue Schlüsselbegriffe und Fragestellungen aktuellen Debatten zu entlehnen. Er baue das dann in seine Rhetorik ein.

Auch sein Charisma steuert Gauck ganz gezielt. Er weiß, wie er bei seinen Zuhörern Wirkung entfaltet. Wegbegleiter sagen, er könne auf Wunsch weinen. Er selbst hat ein metaphysisches Verständnis von seiner suggestiven Begabung: „Ich habe auf meinem Lebensweg erlebt, dass ich Menschen durch meine Art, mit ihnen zu reden, zu ihren Kräften bringen konnte. Es ist mir oft so gegangen, dass Menschen dann auch besser verstanden haben, was sie selber können, und das auch wollten.“

In Markus 1,17 heißt es: „Und Jesus sprach zu ihnen: Kommt mir nach, und ich werde euch zu Menschenfischern machen.“ Gauck ist einer geworden.

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