Jesmyn Wards Roman „Vor dem Sturm“: Im schwarzen Herzen von Mississippi
Die Heimsuchung kam lange vor dem Hurrikan „Katrina“: Jesmyn Ward erzählt vom Elend der ehemaligen US-Südstaaten.
Schmerz ist da, um ertragen zu werden. Das ist die Lehre, die die 15-jährige Esch aus ihrer obsessiven Lektüre der griechischen Mythen zieht. Und sie zieht sie auch aus ihrem eigenen Leben. Denn Esch ist schwanger, arm und schwer unglücklich.
Die Mutter ist tot und der Vater ständig besoffen. Manny, ihr Geliebter, schaut ihr beim Sex nicht in die Augen und küsst sie nicht. Wenn andere dabei sind, ignoriert er Esch und verleugnet sie. Die Liebe zu ihren Brüdern ist das Einzige, was Esch Halt gibt. Immerhin kümmern sie sich um sie und führen sie aus zu Hundekämpfen und Basketballspielen.
Es ist vor allem die archetypische Erzählweise, die den Roman „Vor dem Sturm“ auszeichnet. Die US-amerikanische Autorin Jesmyn Ward setzt das Schicksal von Esch in einen universalen, seit der Antike geläufigen Kontext der verratenen Frau in einer männlich dominierten Welt.
Jesmyn Ward: „Vor dem Sturm“. Aus dem Englischen von Ulrike Becker. Antje Kunstmann Verlag, München 2013, 318 Seiten, 21,95 Euro
Aber auch seine historische Dimension gibt dem Roman eine besondere Bedeutung. Denn der bevorstehende Sturm, von dem im Romantitel die Rede ist, nennt sich „Katrina“. 2005 richtete der Hurrikan das gesamte Gebiet um die Golfküste zugrunde. Auch Autorin Jesmyn Ward hielt sich in jenem September dort auf.
Die mangelnde Hilfeleistung für mittellose Katastrophenopfer, bei denen es sich größtenteils um Afroamerikaner handelte, entzündete eine neue Debatte über Rassen- und Klassentrennung in den damals von George W. Bush regierten Vereinigten Staaten. Wards Roman jedoch handelt von den je in ein Kapitel gefassten zwölf Tagen vor dem Hurrikan, dem Elend und der Armut, die die Bewohner schon vor „Katrina“ heimsuchten.
Ohne Pathos
Im schwarzen Herzen von Mississippi, einem fiktiven Ort namens Bois Sauvage, siedelt Ward das Zuhause ihrer Protagonistin zwischen Autowracks und Hühnerstall an. Es ist heiß, es riecht nach Staub, immer wieder fließt Blut. Der Pitbull namens China, der am Anfang des Romans Babys gebärt, ist das einzige weibliche Wesen in Eschs unmittelbarer Umgebung und wird zur Identifikationsfigur.
Dabei ist Esch ganz anders als eine Kampfhündin: Bemüht, möglichst nicht aufzufallen, spricht sie nur, wenn sie etwas gefragt wird, und behält all ihre Sorgen wie das Geheimnis in ihrem Bauch für sich. Das Einzige, was Esch je leicht gefallen ist, erzählt sie, war Sex. „Es war einfacher, es hinzunehmen, als ihn zu bitten, aufzuhören.“ Dass es mit Manny aber alles andere als einfach ist, dafür legt Ward ihrer Protagonistin die feinsten Metaphern in den Mund: „Er bringt mein Herz auch so zum Hüpfen, will ich sagen und auf das Eichhörnchen zeigen, das unter rhythmischen roten Spritzern stirbt.“
Die physische Abwesenheit der toten Mutter verhindert nicht, dass sie allgegenwärtig in den Gesprächen der Geschwister ist und als Erinnerung an eine glücklichere, wohlhabendere Zeit herhält. Auch die weißen Leute sind außer Reichweite, spielen aber kaum eine Rolle im Leben der Familie. Das schaltet den Rassismus natürlich nicht aus. Im Gegenteil, diese Kluft zwischen den gesellschaftlichen Gruppen betont geradezu das tiefsitzende Problem der ehemaligen Südstaaten.
All diese Umstände schafft Jesmyn Ward weitgehend ohne Pathos zu schildern, weil sie die Perspektive und den ganz selbstverständlichen Alltag von Esch nicht verlässt und weil außer dem Vater, der bis zuletzt wie ein Spinner erscheint, ohnehin keiner die Hurrikan-Warnungen ernstnimmt. Und als „Katrina“ schließlich kommt, geht es ja auch wieder nur ums Ertragen.
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