Jérôme Ferrari über Roman „Das Prinzip“: „In Quantenphysik steckt Literatur“
Der französische Schriftsteller Jérôme Ferrari über seinen Heisenberg-Roman „Das Prinzip“, die Rolle von Fantasie in Forschungen und das Lernen aus Geschichte.
Wie mag Schönheit für den Physiker Werner Heisenberg ausgesehen haben? Steckte sie in der Gleichung seiner bahnbrechenden wissenschaftlichen Erforschung der Unschärferelation? Und auf welche Weise wurde diese Schönheit durch das Weltgeschehen verunmöglicht? Schließlich führten Heisenbergs Formeln bis zur Atombombe. Fragen, denen der französische Autor Jérôme Ferrari in seinem in diesen Tagen erscheinenden Roman „Das Prinzip“ auf den Grund geht, einem der interessantesten Romane dieses Frühjahrs. Als er in Berlin sein Buch vorstellte, konnten wir ihn sprechen.
taz: Herr Ferrari, Durkheim, Freud und der Physiker Werner Heisenberg brachten durch bahnbrechende Forschungen fast zeitgleich wissenschaftlichen Wandel in Gang. Liegt die fundamentale Verunsicherung durch die Industrialisierung, die all dem vorausging, am Anfang Ihres Buchs?
Jérôme Ferrari: Heisenberg kommt an die Universität, als die klassische Physik im Umbruch ist. Aber ich glaube, die Verunsicherung besteht darin, dass unantastbare Grundfeste ins Schwanken geraten sind. Das geht zunächst mit großem Enthusiasmus einher, in seinen Texten spricht Heisenberg oft von dem Eindruck, Neuland zu betreten. Die wirkliche Beunruhigung kommt später, als er sieht, wie uneigennützige Wissenschaft, deren Motivation nur daraus besteht, die Komplexität unserer Realität zu entschlüsseln, in den Bereich technischer Anwendungen abgleitet.
Als Heisenberg mit der Erforschung der Quantenmechanik beginnt, war der Schrecken des Ersten Weltkriegs schon Geschichte. Hat dieses Trauma Heisenbergs Forschungen beeinflusst?
Er ist 1901 geboren, hat seinen Vater in den Krieg ziehen sehen und war alt genug zu verstehen, was da vor sich geht. In seiner Autobiografie schreibt er vom Gefühl der Exaltiertheit beim Kriegsausbruch 1914. Zum Zeitpunkt der Bayrischen Räterepublik 1918/19 lebte er in München und hat sich politisch dagegen engagiert. Er hat jene Zeit als chaotisch erlebt. Ein psychologisches Merkmal ist seine Suche nach der Harmonie innerhalb des Chaos. Er sagt, dass es ihm körperliche Schmerzen bereitet, mitansehen zu müssen, wie alles aus dem Lot gerät.
Durch seine Forschung im Bereich der Kernenergie hatte Heisenberg mit höchsten Kreisen im Nationalsozialismus zu tun. Inwiefern ist seine Karriere dadurch überschattet?
Aus den Reihen der „Arischen Physik“ wurde ihm nach 1933 vorgeworfen, als Schüler Einsteins „jüdische Physik“ zu betreiben. Er war konkret bedroht, beschloss dennoch in Deutschland zu bleiben. Rückblickend realisierte er, dass dies nicht ohne Zugeständnisse geschehen konnte. Mir scheint, dass Heisenberg unter einem Übermaß an Rationalität gelitten hat. Eine Episode aus seiner Internierung 1945 im britischen Farm Hall zeigt das. Als er vom Atombombenwurf auf Hiroshima erfährt, sagt er: Furchtbar, aber andererseits ist das der schnellste Weg, den Krieg zu beenden. Für Heisenberg kann es nur paradoxale Antworten geben. Es gibt nicht die eine, richtige Lösung. Was auch immer man sagt, es ist falsch.
Physik und Literatur werden meist gegensätzlich wahrgenommen. Ist „Das Prinzip“ ein Versuch, die beiden Pole stärker miteinander zu verknüpfen?
geboren 1968, lebt als Schiftsteller in Paris. Für den Roman „Predigt auf den Untergang Roms“ erhielt er 2012 den renommierten Prix Goncourt. In allen seinen Romanen taucht Korsika auf, so auch in „Das Prinzip“ (aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession Verlag Zürich 2015, 130 Seiten, 19,95 Euro).
In der Quantenphysik steckt immense literarische Fülle. Und die habe ja nicht erst ich erfunden. Die von Ihnen beschriebene Dichotomie hat ihren Ursprung im europäischen Bildungskonzept der vergangenen 50 Jahre. In der Bildung, wie sie den um 1900 Geborenen vermittelt wurde, gab es sie noch nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob die Fantasie bei wissenschaftlichen Entdeckungen eine geringere Rolle spielt als in der Kunst. Und ich bin mir ganz und gar nicht sicher, dass man sich in der Wissenschaft damit begnügen kann, Berechnungen anzustellen und mit der reinen Logik zu arbeiten. Es gibt Intuitionen, Sprünge, eine Form von Kreativität. Diese Zweiteilung in Naturwissenschaft und Literatur, wie man sie gemeinhin denkt, kommt mir falsch vor.
„Das Prinzip“ ist teils wie ein Brief verfasst, mit Heisenberg als Adressaten. Sie legen dabei mehr als 100 Jahre zurück. Die erzählte Zeit springt immer wieder aus den 20er Jahren nach 1995, von dort nach 2009. Was ist das Motiv des Absenders, diese Briefe zu schreiben?
Seine Motivation ist, etwas zu verstehen, was besonders weit von ihm entfernt ist. Die Leser finden auch Passagen aus meiner Biografie, die komplett verfremdet worden sind. Nichts von dem habe ich erlebt. Aber ich habe mich auf Dinge gestützt, mit denen ich Erfahrung habe, und die dann verzerrt dargestellt sind, weil ich wollte, dass der Roman eine subjektive Sichtweise hat. Ich wollte keinen Anschein von Objektivität erwecken, ich wollte nicht, dass das Ganze so erscheint, als würde es von einem allwissenden Erzähler überblickt. Der Erzähler versteht nicht alles, oder sogar überhaupt nichts. Und dann gibt es auch diese Bewegungen von Abwehr und Anziehung. Die Idee war, zwei Pole zu schaffen, Heisenberg, das Subjekt des Romans, und diesen Erzähler, für den sich etwas zwischen diesen beiden Polen abspielt.
Was macht für Sie den Reiz an Heisenbergs sehr deutscher Biografie aus?
Sich als Franzose damit zu befassen, ein Schicksal zu beschreiben, das, wie Sie zu Recht herausstellen, ein sehr deutsches Schicksal ist, schafft Legitimationsprobleme. Aber zugleich ist genau das meine Arbeit als Schriftsteller. Ich sprach eben davon, sich in etwas hineinzuversetzen, das sehr weit entfernt ist. Heisenbergs Schicksal hat mich interessiert, weil es ein moralisches Problem verkörpert, das mir quasi unauflösbar scheint. Es gibt nicht einfach die Wahl zwischen Verurteilung oder Absolution, man muss eine Bemessung vornehmen. Es gibt Schicksale, die sind klar heroisch, und es gibt eindeutig unheilvolle Schicksale. Und dann gibt es ein Dazwischen, den Kern der menschlichen Erfahrung, der weder das eine noch das andere ist und den man in seiner Komplexität erfassen muss. In diesem Dazwischen liegt die tragische Last der Geschichte.
Wie ist Heisenberg mit dem Wissen um die verheerende Wirkung der Atombombe nach 1945 umgegangen?
Er hat klar Position dagegen bezogen. Ende der 50er Jahre gab es in Deutschland die Überlegung, die Arbeit an der Atombombe wieder aufzunehmen, und er und Carl Friedrich von Weizsäcker haben ein Manifest unterschrieben, in dem sie erklärt haben, dafür nicht zur Verfügung zu stehen. Vielleicht hat sie das die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs gelehrt.
Momentan existieren so große Bedrohungslagen wie seit den Tagen des Kalten Krieges nicht mehr. Wenn Sie etwa an die Ereignisse von Paris im Januar denken, glauben Sie, dass die Weltzivilisation aus den Erfahrungen eines Werner Heisenberg gelernt hat?
Nein, ich denke, dass die Menschheit nie aus der Vergangenheit lernt, aber dass es sich auch nicht lohnt, daran zu verzweifeln. Die jüngere Geschichte Europas hält doch viele Beispiele bereit, mit welch unglaublicher Geschwindigkeit eine Situation aus dem Ruder laufen kann, und es gibt überhaupt keinen Grund, warum sich dies nicht wiederholen sollte.
Aus dem Französischen übersetzt von Linn Sackarnd
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