Jenseits von Mottram Hall: Wilde Kerle
■ Nicht die Klassensprecher, sondern die Assassinen sollen gewinnen
Jenseits von Mottram Hall ist eigentlich alles: das Freibad zum Beispiel oder das Zimmer, in dem wir uns treffen, um Fußball zu gucken, oder auch der Hausflur vor der Wohnungstür einer technomusikbegeisterten Freundin in Moabit, die zwei Meter hohe Boxen hat, dem Fußball und seinen interessanten Unwägbarkeiten eher gleichgültig gegenübersteht und statt dessen lieber „Weltspiegel“ guckt. In dem Hausflur hängt also seit Jahren die erste
Das ist Detlef KUHLBRODT
Sein Spieler: Gheorghe Hagi. Weil er so elegant aussieht, launisch genial spielt und auch gern mal faul ist.
Sein Team: Rumänien. Weil sie die zwei besten Spiele bei der letzten WM machten: gegen Kolumbien und Argentinien.
Europameister 96: Rumänien. Darum!
Seite der Bild-Zeitung, die sich mit Franz Beckenbauer beschäftigte: „Ich war eine Pflanze. Ich will eine Frau sein. Ich möchte ein Kind gebären“, stand da und Bild fragte erschrocken: „Wird er so seltsam wie Prinz Charles?“
Beckenbauer ist trotzdem unsympathisch. Vogts dagegen, Vollwaise und „präzise Seele“, beobachtet gern in seiner Freizeit „Wildschweine“ und „streichelt Schildkröten“. Wenn alle so wären, gäb's weniger Leid auf der Welt, und daß die Menschen meiner Zusammenhänge, die ebenfalls jenseits von Mottram Hall liegen, dem Bundestrainer nicht wohlgesonnen sind und ein frühzeitiges Ausscheiden unserer Mannschaft herbeisehnen, damit Vogts mit Schimpf und Schande entlassen wird, wohingegen sie einer von Beckenbauer geführten Mannschaft ihren Beifall nicht verweigern würden, ist kein schöner Zug. Obgleich: So richtig wünscht man diesen langweiligen Werbespotgesichtern und ihrem irgendwie hölzernen Fußball nun doch keinen Erfolg. (Soviel zu den Unsrigen.)
Dagegen die anderen. Bulgarien zum Beispiel. Imposante Namen, interessante Gesichter, furchterregende Blicke. Ohne Schiedsrichter würden sie möglicherweise ihre Gegner ermorden. Keine Klassensprecher, die angepaßt und wohlerzogen wie Klinsmann daherkommen, sondern Superstars, die souverän und arrogant wie Hristo Stoitschkow ihren Hang zum Größenwahn ausleben und in ihrem Trachten, Spielen und vor allem auch Faulsein auf ein utopisches Jenseits, jenseits der Zweckrationalität, verweisen.
Oder Trifon Iwanow, der Abwehrspieler aus dem Land, wo die wilden Kerle wohnen. Ultrahart, auch mit viel Übersicht. Ein Mann, den man nicht zum Feind haben möchte. Schwarze Ringe unter den Augen, blutrünstig, aber auch irgendwie melancholisch verhangene Augen. Ein Gesicht, dessen entschlossene Ausdruckslosigkeit an den letztlich verstorbenen Kaurismäki-Schauspieler Matti Pellonpää erinnert. Nie sah man einen Fußballspieler, der so permanent ständig total stoned aussieht. Wenn man ihn anschaut, hält man es doch plötzlich für möglich, daß Haschisch etymologisch von den mörderischen Assassinen kommt.
Noch besser als die Bulgaren sind nur noch die Rumänen, deren Ausscheiden bei der letzten WM gegen die blöden Schweden dazu geführt hatte, daß man monatelang keinen Fußball mehr angucken konnte, ohne schlechtgelaunt zu werden. Gesichter, hinter denen sich tausend dubios-interessante Geschichten, gar Romane verbergen. Die Spiele der Rumänen – zumindest wenn sie mal Lust haben – sind schön. Sehr schön. Außerordentlich schön. Wenn die Rumänen zu ihrem Spiel finden, scheint die Sonne, und der Welten Sinn springt aus dem Fernseher. Wenn sie Europameister werden, wird der geniale Gheorghe Hagi Präsident. Detlef Kuhlbrodt
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