: Jenseits des Schweigens
ELEGIE Der israelische Schriftsteller David Grossman spürt in „Aus der Zeit fallen“ dem Tod seines Sohns nach
VON CATARINA VON WEDEMEYER
Näher, dichter, intensiver geht es nicht. Das dachte man schon bei „Sei Du mir das Messer“ (2003) oder „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ (2009) von David Grossman. Dass es doch geht, beweist der schmale Band „Aus der Zeit fallen“. Es ist der bisher wohl intimste Text des Autors.
In seiner Person liegt auch der Grund, dass es einen Text wie diesen überhaupt geben kann: David Grossman versucht, eine Erfahrung in Worte zu fassen, die zugleich eng mit der israelischen Geschichte verbunden und dabei doch zutiefst universal ist: Uri, der Sohn von David Grossman, starb 2006 während des Libanonkrieges. In poetisch verdichteten Bildern, abgebrochenen Sätzen und Gedankenfragmenten thematisiert „Aus der Zeit fallen“ in über das Persönliche weit hinausgehenden Worten den Schmerz zurückbleibender Eltern.
Grossman wagt formal und inhaltlich viel. An einer Stelle des Textes wird der Schmerz um den Verlust eines geliebten Menschen als Exil benannt, denn Trauer bedeute, sein Zuhause verloren zu haben. Von diesem „Land der Verdammung“ habe er eine Topografie schaffen wollen, so zitiert die Übersetzerin Anne Birkenhauer den Autor, wenn sie im Nachwort von ihrer Arbeit mit Grossman berichtet.
Der Text beginnt dialogisch, in Formen der Tragödie spürt er dem Schmerz nach. Ein Mann zieht in immer weiteren Kreisen um sein Haus. Als „ausgesandte Frage“ will er nach „dort“, an den Ort, an dem sich sein Sohn befindet. Um zum verlorenen Sohn zu gelangen, versucht er selbst aus der Zeit zu fallen. Ob es ihm gelingt? Das kann er nur herausfinden, indem er es versucht.
Das Kind lebt weiter
Weitere verwaiste Eltern schließen sich dem Mann an, gemeinsam irren sie durch eine unbestimmte Gegend. Jedem noch so widersprüchlichen Gefühl geben sie Raum, und jede noch so unbeantwortbare Frage darf hier gestellt werden. „Wie werden wir noch einmal lieben?“, formuliert eine Figur einmal ihre Ohnmacht, oder: „Was ist erregender als die Hölle anderer?“
Mal als Chor, mal einzeln sprechen oder denken die Gehenden einen Text, der niemandem gehört und von dem niemand weiß, wer ihn hört. Die Gehenden erscheinen zuweilen wie mythische Gestalten: Eine „Stumme Frau im Netz“ ergänzt den Satz eines „Herzogs“, ein „Zentaur“ verflucht den „Chronisten der Stadt“. Namen haben in diesem Text nur die Kinder.
Der Zentaur ist ein mit seinem Schreibtisch verwachsener Dichter, von dem der Text nahelegt, dass er es ist, der die anderen Figuren erschreibt. Und der Gehende Mann ruft seinen Sohn „Uuui“ – das evoziert den Namen des Sohns von David Grossman, ist zugleich jedoch ein Klagelaut, der auch jenseits des Biografischen klingt. Dieses Zugleich bestimmt den Text, der sich schlichter biografischer Zuordnungen entzieht, schon weil jede Gestalt Schmerz unterschiedlich verkörpert. „Der seines Kindes Beraubte ist immer Frau“, stellt eine Figur fest. Denn das Kind lebt weiter – in den Beraubten.
So wirkmächtig sind die Bilder und Klänge, die Grossman für den Verlust findet, dass es oft scheint, als gehe dieser Text über Worte weit hinaus: Wenn sich der Mann und die Frau an die Gerüche ihres Sohns erinnern – den frischen Schweißgeruch des Jugendlichen, den Salzgeruch, wenn der Sohn vom Meer kam, den Geruch des Neugeborenen –, liest man nicht nur selbst mit der Nase, man ist mitten in dem, was Literatur zu leisten vermag – zumindest die von David Grossman. Beim Lesen spüren und teilen wir den Schmerz, auch wenn er im Zwiegespräch des Zentauren mit dem Chronisten in einem tiefen gemeinsamen Brummen Ausdruck findet oder, wie es immer wieder in den Regieanweisungen heißt, nur Schweigen bleibt.
Die Handlung wirkt wie eine Abfolge von Urbildern. Nach etlichen Wegen durch die kreisförmige Textwelt gelangen die Gehenden an eine Mauer. An dieser Mauer legen sie ihre Kleider ab und graben sich nackt in die Erde. Hier berührt sich Grossmans Text mit den Totenklagen der griechischen Tragödie, die Zeilen der Dialoge erscheinen dabei zuweilen wie Verse aus einer Elegie.
Den Schmerz benennen
Und so verweist der Titel von David Grossmans neuem Buch, „Aus der Zeit fallen“, auf den Kern des Texts: Jede an eine bestimmte persönliche und eine konkrete politische Konstellation gebundene Erfahrung von Verlust ist immer auch ein universaler Verlust, der uns alle betrifft und überzeitliche Geltung hat. Angesichts des Schmerzes bleiben dem Schriftsteller Grossman die Worte. Dass es ihm gelingt, diese Worte zu finden, erscheint so schmerzhaft wie notwendig.
Denn nur die Worte Grossmans, die Anne Birkenhauer einfühlsam und genau übersetzt, machen den Text trotz seines bedrückenden Gegenstands so lesbar. Die Worte sind es auch, die den Figuren aus dem freien Fall zurück in die Zeit verhelfen: Nach und nach kann die Stumme Frau wieder sprechen, der Chronist erlaubt sich das Erinnern, und der Zentaur beginnt zu erzählen. In diesem Kampf gegen das Unsagbare entstehen ganz neue Wörter, „grenzewig“ zum Beispiel oder „ervatern“.
Worte zu finden ist Leben, und am deutlichsten wird dies, wenn der Vater den verlorenen Sohn anruft: „Komm, ereigne Dich /Zögre nicht, sei!“ In dieser Passage feiert der Text alles, was das Leben ausmacht: „Juble aus meiner Kehle, lach, blöke, treibe Unfug / schnell, probier alles, verschling es, sei tief.“ Ob das tote Kind ihn hört oder nicht, ob es den Aufforderungen eines Diesseitigen überhaupt nachkommen will oder nicht – der Leser will es nach der Lektüre ganz sicher. Sofort und unbedingt.
■ David Grossman: „Aus der Zeit fallen“. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Hanser Verlag, Berlin 2013, 128 S., 16,90 Euro