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„Jeder Mensch hat einen Namen“

■ Konzentrationslager Neuengamme: 700 ehemalige Häftlinge verfolgten gestern die Gedenkfeiern am Ort ihrer Leiden Von Iris Schneider

Ruhig und gesammelt verfolgten sie die Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der Befreiung aus dem Konzentrationslager Neuengamme auf dem einstigen Appellplatz. Mehr als 700 ehemalige Häftlinge des Lagers waren zurückgekehrt an den Ort ihrer Leiden. Die auf deutsch und französisch gehaltenen Reden konnten viele der Teilnehmer, gerade aus den osteuropäischen Ländern nicht verstehen, aber die Lieder, die ein Chor sang, erreichten sie. Besonders das Lied von den „Moorsoldaten“ wirbelte Gedanken und Emotionen hoch in den Menschen, die hier vor 50 Jahren eingesperrt waren. Viele waren bis gestern nie wieder in Neuengamme gewesen.

Auf dem Schweigemarsch zum Ehrenmal für die Gefangenen, vorbei am heutigen Gefängnis Vierlande, weckte das Gelände Erinnerungen an das Leben im Lager. Nikolai Simonov aus der nordrussischen Republik Karelien, 1942 mit der Nummer 8092 ins Lager eingewiesen, zeigt auf dem Plan der Gedenkstätte, in welcher Baracke er hausen mußte. Auch die Straße erkennt er wieder: „Hier sind wir zur Arbeit in den Tongruben gegangen. Alle 100 Meter standen zwei SS-Männer mit Hunden.“

Als versprengter Soldat der Roten Armee war er den Deutschen in die Hände gefallen. In den drei Jahren, die Nikolai Simonov im Lager verbracht hat, wurde er immer wieder neuen Arbeitskommandos zugeteilt: Das Fundament eines der noch erhaltenen Backsteingebäude des Häftlingslagers hat er mitgebaut; die Arbeit in der Tongrube gehörte zu den schlimmsten Kommandos des Lagers. Nach einer Krankheit durfte Simonov sich einige Tage in der Küchenbaracke beim Kartoffelschälen „erholen“, wie er heute noch sagt.

Ein Jahr, bis zum April 1945, war der damals 24jährige im Außenlager Bremen-Farge. Dort mußten die Häftlinge einen Bunker für eine U-Boot-Werft bauen. Kurz vor Kriegsende wurde er dann nach Neuengamme zurück und von dort auf die „Cap Arcona“ gebracht. An eine Holzplanke geklammert, hat Nikolai Simonov das Inferno in der Ostsee überlebt.

Neben ihrem Namen trugen gestern alle Ehemaligen ihre Häftlingsnummer auf kleinen Schildern an der Kleidung. „Hier war man nur eine Nummer, der eigene Name zählte nicht. Ich war 18023“ sagt Wiktor Malik, der als 16jähriger im April 1943 nach Neuengamme kam, mit einer Mischung aus Stolz und Wut. Ein Jahr zuvor war er von der Gestapo in Krakau verhaftet worden, ein Jahr saß er in deren berüchtigten Gefängnis. Das Ende des Krieges erlebte der junge Pole versteckt in der Dachverschalung einer Zuckerfabrik in Celle.

Diese Flucht ins Dach hat ihm das Leben gerettet: Alle übrigen 500 Häftlinge wurden von der SS in einem Wald erschossen, kurz bevor die Engländer Celle erreichten.

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