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Archiv-Artikel

Jede Zahlung ist illegal

Ein bisschen Korruption muss sein, meint die Russlandkorrespondentin Kerstin Holm in „Das korrupte Imperium“

Kerstin Holm ist die russische Kulturkorrespondentin der FAZ. Die These ihres Buches lautet: Korruption ist in der russischen Gesellschaft allgegenwärtig und von den Spitzen der Politik und Wirtschaft bis zur Alltagsebene verbreitet. Sie ist ein sozialer Kodex. Der Durchschnittsbürger, der Geschäftsmann wie der Beamte korrumpieren oder sind korrupt, weil ein permanent versagender Staat ein Parallelsystem von Ressourcenzugängen und Mechanismen der Konfliktaustragung erforderlich macht.

Wer seinen Alltag einigermaßen erfolgreich bewältigen will, ist gezwungen nachzuhelfen. Die illegalen Zahlungen umfassen das Schmiergeld für Polizisten und Richter ebenso wie die Schutzgelder an den einen Mafia-Clan, mit denen sich ein Unternehmer andere Mafia-Clans vom Leib hält. Es geht offensichtlich schlicht nicht ohne solche Zahlungen.

Holm entwirft nun mit einer scharfsinnigen Analyse ein detailliertes Bild der russischen Netzwerke der Korruption. Dabei stützt sie sich vor allem auf das Material russischer Sozialwissenschaftler. Sie spürt zudem den historischen Ursprüngen des Phänomens im Zaren- und Sowjetreich nach. Das ist manchmal etwas weitschweifig und nicht ganz neu, lässt aber die aktuellen Passagen des Buches umso positiver hervortreten.

Das moderne Korruptionssystem ist für Holm juristisch nicht greifbar, denn die Mitglieder der Justiz und des Staatsapparates sind Teil des Systems. Wenn punktuell dagegen vorgegangen wird, liegt der Verdacht politischer Willkür nahe. Wie zum Beispiel im Falle des Ölmagnaten Michail Chodorkowski, dem Betrug bei der Privatisierung des Chemiekonzerns Apatit 1994 vorgeworfen wird. Alle großen Finanztransaktionen der 90er-Jahre sind „illegalisierbar“, weil sie ohne die Schmierung ganzer Beamtenscharen nicht durchführbar waren. Sie können jederzeit als kompromat, belastendes Dossier, formuliert werden.

Anlass des Schlages der Putin-Administration gegen Chodorkowski ist dessen Griff nach der Macht. Aber auch das Saubermann-Image des vom raubkapitalistischen Saulus zum demokratischen Paulus gewandelten Oligarchen provozierte den Kreml. Auf einem Treffen Putins mit den Oligarchen im März 2003, das Holm beschreibt, verlangte Chodorkowski von Putin ein konsequentes Vorgehen gegen die grassierende Korruption. Putin irritierte dieses Verlangen. Für ihn sitzt Chodorkowski Steine werfend im Glashaus seiner Milliarden.

In den gängigen Russland-Büchern taucht Korruption nur als Verweis oder als Klischee auf. Welche Gestalt das Phänomen hat und in welchem Ausmaß Politik, Wirtschaft und Gesellschaft davon betroffen sind, wird allerdings erst durch Kerstin Holms Buch greifbar.

HEIKO HÄNSEL

Kerstin Holm: „Das korrupte Imperium. Ein russisches Panorama“. Carl Hanser Verlag, München 2003, 264 Seiten, 19,90 Euro