piwik no script img

Jazz von FrauenBluenotes ohne Patriarchat

US-Drummerin Terri Lyne Carrington behebt einen alten Missstand und veröffentlicht ein Notenbuch und Album mit Songs, die Jazzerinnen komponierten.

Terri Lyne Carrington tritt auf ihrem neuen Album auch als Texterin auf Foto: Michael Goldman

An welchen Song denken Sie beim Thema Jazzstandard? Ist es „All of Me“, „Fly me to the Moon“ oder doch lieber „Summertime“? Egal, denn all diese Stücke – und auch so gut wie alle anderen Jazzstandards – stammen von Männern. Das ist auch der US-Künstlerin Terri Lyne Carrington aufgefallen, als sie die Jazz-Bibel, das sogenannte „Real Book“, eine Sammlung auf Noten transkribierter Jazzsongs, nach Werken von Frauen durchsucht hatte und nur selten fündig wurde. Nur, es gibt viel mehr Songs von Musikerinnen.

Carringtons ehrgeiziges neues Projekt „New Standards“ will diesen Missstand ändern. Die 57-jährige US-Jazzdrummerin hat gerade dieses so betitelte Notenbuch veröffentlicht – ausschließlich mit Werken von Komponistinnen. Und das ist noch nicht alles: Daneben hat sie auch ein Album mit elf Stücken aus dem Songbook herausgebracht, eingespielt von lauter Jazzstars, und bis Ende November gibt es dazu auch eine Multimedia-Ausstellung im Carr Center in Detroit.

Das von Carrington kuratierte Notenbuch „New Standards: 101 Lead Sheets by Women Composers“ ist beim Verlag des Berklee-Konservatoriums erschienen. Wie der Titel verspricht, enthält es 101 Kompositionen, die vielfältiger kaum sein könnten: Darin versammelt ist die ganze Bandbreite anerkannter Größen, aber auch junger Visionärinnen, vergessener Heldinnen und Pionierinnen des Jazz. Die Stücke stammen aus beinahe einem ganzen Jahrhundert: Sie wurden zwischen den Jahren 1922 und 2021 komponiert.

Elf Songs daraus hat Carrington für ihr Album „New Standards Vol. 1“ eingespielt. Bei dieser Auswahl hat sie vor allem auf stilistische Vielfalt geachtet. Die Stücke klingen sehr unterschiedlich. Einige sind eher groovelastig wie „Respected Destroyer“ von Brandee Younger oder Gretchen Parlatos „Circling“, andere eher verträumt und verspielt wie Anat Cohens „Ima“ und „Moments“ von Eliane Elias. Mit Abbey Lincolns „Throw it Away“ ist auch ein Klassiker aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung dabei.

Album, Buch und Ausstellung

Terri Lyne Carrington: „New Standards Vol.1“ (Candid/Import)

Terri Lyne Carrington: „New Standards: 101 Lead Sheets by Women Composers“, Berklee Press, Boston 2022, 184 Seiten, ca. 25 Euro

„New Standards. Shifting the Narrative: Jazz and Gender Justice“. Carr Center Detroit, bis 27. November 2022

Noch interessanter sind Fundstücke wie ein Song von Sara Cassey (geboren 1929). Die Jazzkomponistin aus Detroit war zwar zu Lebzeiten so bekannt, dass etwa Hank Jones, Herb Ellis und Ron Carter ihre Musik aufgenommen haben, allerdings geriet sie über Jahrzehnte in Vergessenheit. Ihr Stück „Wind Flower“ ist bluesy, lyrisch, überraschend. Am Schlagzeug sitzt Terri Lyne Carrington höchstpersönlich. Ihre Band komplettieren die Pianistin Kris Davis, die Bassistin Linda May Han Oh sowie Trompeter Nicholas Payton und Gitarrist Matthew Stevens.

Darüber hinaus hat Carrington unzählige Gäste für einzelne Tracks eingeladen. Bei „Rounds“ von Marilyn Crispell ist das Trompeter Ambrose Akinmusire. Die Liveaufnahme aus dem Berklee College of Music klingt sehr nach improvisiertem Free Jazz, trotzdem ist die frotzelnde und klappernde Musik komponiert.

Slogan von Carringtons Institut: „Jazz without Patriarchy“

Terri Lyne Carrington tritt auf ihrem neuen Album nicht nur als Schlagzeugerin, Bandleaderin und Botschafterin auf, sondern auch: als Texterin. Sie hat nämlich die Lyrics für den Carla-Bley-Song „Lawns“ verfasst und ist stolz, dass die Pianistin ihren Text angenommen hat. Mit weichgoldener Stimme singt Samara Joy über das traumhafte Leben und zwei Herzen: „We play / Sweet smiles along the way / Under stars we gazed / Under moons memories made good times“. Anschließend setzt Ravi Coltrane zu einem smoothen Saxofonosolo an, ein Track zum Dahinschmelzen.

Das Songbook und das Album sind keine – wie leider so oft – Marketinggags, keine Alibis, kein Aufspringen auf irgendwelche Trendzüge. Terri Lyne Carrington meint es ernst. Nur weil sie als Schwarze im männerdominierten Jazz Karriere gemacht hat, da sie selbst früh Förderung von ihrem Vater und anderen erhalten hat, heißt das noch lange nicht, dass es anderen Schwarzen Frauen besser ergeht. Im Gegenteil. Deswegen hat Terri Lyne Carrington 2018 das Berklee Institute of Jazz and Gender Justice gegründet. Jetzt ist sie dessen künstlerische Leiterin und engagiert sich im Kampf für Gendergerechtigkeit und mehr Sichtbarkeit für marginalisierte Musiker:innen.

Terri Lyne Carrington weiß, dass das Problem im System liegt. Der Slogan ihres Instituts heißt „Jazz Without Patriarchy“. Mit ihrem neuen Projekt möchte Carrington die etablierten Standards von der Wurzel her ändern. Natürlich ist „New Standards Vol. 1“ ein politisches Album. Aber es allein auf den gesellschaftlichen Aspekt zu begrenzen, wäre viel zu kurz gedacht. Die enthaltene Musik ist vor allem ein Zeugnis von exzellenten Künstlerinnen. Ihre technische Brillanz stellen sie nicht in den Dienst von Perfektion, sondern von Atmosphäre und Lebendigkeit. Ein roter Faden ist – außer den Komponistinnen – nicht klar zu erkennen, vielleicht braucht es den auch gar nicht. Terri Lyne Carrington gelingt einmal mehr kontextreiche Musik voller Unterschiede. Sie vereint Stilistiken, Zupackendes und Dahinfließendes; und den Wunsch nach einer Zukunft, in der Jazzstandards nicht mehr nur von Männern stammen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Die eigentliche Kunst des Jazz liegt natürlich gar nicht bei den Komponistinnen und Komponisten der Standards: Diese Songs oder Instrumentalstücke sind nur Rohmaterial für die Interpretation und Improvisation. Meist sind sie für sich gar kein Jazz, sondern einfach populäre Melodien, die ebenso gut als Schlager oder Kunstlied interpretiert werden könnten. Für die Intonation des Jazz hat eine Bessie Smith mehr geleistet als alle Urheberinnen und Urheber von Standards zusammen; ihre Tonbildung findet sich in diversen Instrumentalpassagen von Blues, Jazz und Rock wieder, und die Namen der vorherigen Sängerinnen auf Baumwollfeldern, die die Fundamente schufen, wird kein Buch mehr festhalten können.