„Jazz ist wie Barockmusik“

Musik Das Bremer Barockorchester ist eine neue Instanz ganz alter Musik. Konkurrenz haben Sie damit nicht, obwohl ihre klassische Musik doch sowas wie Rock ist. Und Jazz

Noch keine Ehe, sondern eher eine Gruppenaffäre: das Bremer Barockorchester Foto: Bremer Barockorchester

von Jens Fischer

Schnörkelige PoBarockmp-Kultur, kaum gezügelte Leidenschaft unter züchtiger Oberfläche, Prunksucht als Machtdemonstration: Als affektierter Abkömmling der edlen Renaissance gilt die Barockzeit. Und die wird mit kaum einer deutschen Stadt weniger verbunden als mit Bremen. Ausgerechnet dort haben 20 musizierende Freiberufler aus 15 Ländern zum Unternehmen Bremer Barockorchester GbR (BBO) zusammengefunden. Als Verlängerung ihres Studiums ins Berufsleben.

Und um den internationalen Ruf der Hansestadt als Musica-antiqua-Hochburg auch lokal und regional zu verankern. Sie besitzt mit der Akademie für Alte Musik das bundesweit älteste und größte Ausbildungszentrum für Klangkunst des 16. bis 18. Jahrhunderts. 1994 wurde es in die Hochschule für Künste (HfK) integriert, 90 Studenten erstreben derzeit einen Bachelor- oder Masterabschluss in Alter Musik.

Ihnen anschließend an der Weser Perspektiven zu bieten, selbstbestimmt den Musikantenjob zu entwickeln, das war im März 2015 die Idee der HfK-Absolventen, die als Latin-Barock-Septett Los Temperamentos und mit Musikunterricht ihren Lebensunterhalt verdienen.

Noch kein Bund fürs Leben

Viermal im Jahr laden sie seither Ex-Kommilitonen ein, um ein Barockprogramm einzustudieren. „Im Gegensatz zu den großen Ehe-Orchestern, die Jahr und Tag zusammenhocken, sich im auch ermüdenden, mit Streit gewürzten Alltag gut aufeinander eingespielt, aneinander abgearbeitet haben, sind wir noch ein Affären-Orchester“, erklärt der künstlerische BBO-Leiter Néstor Cortés, der 2008 aus Kolumbien nach Bremen übersiedelte. „Wir kommen kurz und intensiv zusammen für einen lustvollen Moment gemeinsamen Musizierens – und gehen dann wieder unserer Alltagswege.“ Irgendwann soll aber eine musikalische Ehe auf Dauer möglich sein. In Bremen hat das Orchester keine Konkurrenz. Nicht mal in Norddeutschland. Die nächsten Zentren Alter Musik sind Berlin, Köln oder auch Amsterdam.

Gerade zur Weihnachtszeit werden wieder all die Choräle und Oratorien von Bach, Händel und Co. aufgeführt – „und wer sucht, der findet auch sonst jede Woche ein kirchliches Barockkonzert in Bremen“, so BBO-Cembalistin Nadine Remmert: „Was aber fehlt, ist die weltliche Barockmusik, der fühlen wir uns verpflichtet.“ Es gebe so viel Material aus dieser unfassbar produktiven Zeit zu entdecken.

Beispielsweise in Bremens Bibliotheken, im Internet und in jedem Schlossarchiv, wenn man mal stöbere. Jüngst präsentierte das BBO französische Festmusik. Haltung und Anmut des höfischen Zeremoniells sowie das Verwirrspiel der Geschlechter wurde mit pantomimischer Ironie von der Hamburger „Alta Danza“-Gruppe illustriert. Zu anderen Konzerten sind Starsolisten als Bonus geladen. Mit etwa 300 Zuhörern ist jeweils zu rechnen. Die Eintrittspreise liegen bei 20 Euro. „Aber die Ticketerlöse decken nur ein Drittel der Kosten“, sagt Cortés. Der Rest werde von Sponsoren, mit Erspartem und von einem Freundeskreis aufgebracht, den 40 Fans gegründet haben.

Cortés sagt: „Wir produzieren kostengünstig, proben die neuen Programme nur zwei Tage lang.“ Zwölf sind inzwischen erarbeitet worden – Premiere wird immer in Bremens Kirche Unser Lieben Frauen gefeiert. Zur anschließenden Tournee reicht die Berühmtheit noch nicht. Deswegen werden die Darbietungen mit professioneller Tontechnik und von neun Kameras aufgenommen – die Zusammenschnitte dann als Werbevideo auf Youtube platziert. „Jede Minute eines solchen Clips kostet uns 1.000 Euro“, erklärt Cortés. Und freut sich über erste Erfolge. Im ersten Jahr ihres Bestehens gab das BBO vier, in 2016 sind es bereits zwölf Konzerte. Was die kosten? „20.000 Euro pro Abend muss ein Veranstalter für uns schon zahlen.“

Renaissance des Barock

Wiederbelebt wurde Barockmusik durch die „historisch informierte Aufführungspraxis“ seit Ende der 1950er-Jahre. Gespielt wird auf nachgebauten oder originalen, aus der Zeit stammenden Instrumenten. „Mein Cello ist aus dem Jahr 1770, dort ziehe ich keine modernen Hightech-Stahlsaiten auf, die bei jeder Temperatur gleich klingen, sondern wie früher: Darmsaiten“, so Cortés. Gestrichen wird mit kleinen, konvex gespannten Bögen. Gedämpfter, leiser, wärmer, weicher, intimer wird so der Klang. Was auch für die anderen Instrumente gilt. Aktuell ist der Markt für solche Konzerte beherrscht durch die Lehrergeneration von Cortés & Co. „Das Publikum könnte also bereit sein für unseren jungen, neugierig direkten Zugang“, hofft Remmert: „Barock ist Gute-Laune-Bringer, kunstvolle Popmusik.“ Als Kind war Cortés ein Fan des Hardrock-Gitarristen Yngwie Malmsteen – bis er entdeckte, dass dessen Hochgeschwindigkeitssoli nicht spontan erfunden, sondern bei Bach geklaut sind. „Rock ist also nichts anderes als laut aufgedrehte Barockmusik, gespielt mit verzerrten Gitarren.“ Er aber wollte fortan das Original spielen: lernte Violoncello.

Die nachgebauten Instrumente der Barockzeit klingen gedämpfter, leiser und wärmer. So wird die Musik intimer

Entscheidend für das BBO-Konzept ist der Verzicht auf einen standardisierten Sound. Die einzelnen Musiker werden gefeiert – so wie das Barock zwischen sterbendem Absolutismus und wuchernder Aufklärung die Individuen zur Selbstentfaltung animierte, sie aus dem Kollektiv emanzipierte. Das sei von den Komponisten auch so gewollt, betont Cortés. „Sie gewähren Freiheiten, indem sie nur ganz selten mal ausweisen, wie Noten zu spielen sind. Nur Grundstrukturen und Basso continuo sind notiert“, erzählt die Cembalistin. „Ich spiele diese stützende und vorwärtstreibende Basslinie mit der einen Hand, mit der anderen bin ich frei, eine zweite Stimme zu formulieren, mich einzumischen ins Improvisieren.“

Jeder ist Mitkomponist

Den Kollegen dienen die kleinen, auf der Tonhöhentreppe rauf und runter gehievten Motive und Harmonien als Ausgangsmaterial, hier mal zu ornamentieren, dort mal solistisch auszuscheren oder mit Affekte schürenden Effekten zu spielen. Jeder BBOler darf Mitkomponist werden und sich hochfantasieren in virtuose, auch nicht immer ganz uneitle Selbstdarstellungen. Barock ist auch Jazz? „Nein, Jazz ist wie Barockmusik“, sagt Remmert. „Wir sprechen vorher nur die Einsätze ab, alles weitere ergibt sich aus dem Moment und wird durch Augenkontakt kommuniziert.“ So beginnt auch das jüngste Konzert „Les caractéres de la danse“. Aus perkussivem Geklöter wird der Urknall eines Rhythmus entwickelt, in eine Bassfigur überführt, mit Gitarrenakkorden begleitet und umflirtet von Streichern.

In einem Klangzirkus frisch erfundener Melodien jongliert das BBO daraufhin mit Elementen höfischer Tänze, die in den folgenden Werken ausformuliert werden. Toll diese freie Gestaltung musikalischer Bögen. Toll, wie stets der innere Puls spürbar ist für ein Unterwegssein im Kreis. Nicht so toll, dass mit leicht verhuschter denn geschmeidiger Eleganz musiziert wird, alles eher scheu verliebt als fett nach Affäre klingt. Aber die Klangkorsette sind arg gedehnt – vielleicht nur eine Frage der Probenzeit, wann sie künstlerisch wertvoll platzen und das wunderbar Maßlose des Barock offenbaren.

Nächstes Konzert: „Musikalische Weltbürger – Meisterhafte Stilkopien“. Das BBO spielt farbenprächtige Streichermusik des Hochbarock und dokumentiert auf unterhaltsame Weise, wie die damaligen Komponisten ihre europäischen Nachbarn zitiert, nachgeahmt und selbst wiederum bereichert haben. Freitag, 20 Uhr, Kirche Unser Lieben Frauen.