Jarvis Cockers Lyrics in Buchform: Hühnerbrust ist supersexy
Jarvis Cocker, Sänger der britischen Band Pulp, erzählt in seinen gesammelten Songtexten „Mother, Brother, Lover“ von seinem eigenen Leben.
Ein Songtext muss „echt klingen und aus einer wirklich gelebten Erfahrung kommen“. Das ist eine Erkenntnis von Jarvis Cocker, Sänger und Texter der britischen Band Pulp. Seine Texte sind nun in einer zweisprachigen Ausgabe erschienen.
Im Vorwort von „Mother, Brother, Lover“ schreibt der 50-Jährige weiter, dass er nie Tagebuch geführt hat, sondern die Songs seine persönliche Entwicklung dokumentieren. Da Cockers Texte stets narrativ sind und die Sammlung ausgesuchte Texte aus den Jahren 1983 bis 2009 beinhaltet, ist diese Entwicklung wunderbar nachzuvollziehen. Jarvis Cocker gründete Pulp bereits zu Schulzeiten, 1978.
Erste Textversuche erspart er der Leserschaft, weil sie entweder „einfältig“ oder „peinlich ernst“ sind. Bereits damals entschied er sich für einen inhaltlichen Kniff, der seine Texte noch immer sehr lesenswert macht – und sie von Zeilen wie „What’s the story morning glory?“ der Britpop-Konkurrenten Oasis deutlich abhebt.
Eigene Makel aufbauschen
Angetrieben von der „massiven Diskrepanz“ zwischen den Berichten über Liebesdinge in Radiosongs und seinen ersten eigenen romantischen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, beschließt Jarvis Cocker, die Dinge richtigzustellen, „es in meinen Texten anders zu machen und all die unangenehmen und peinlichen Situationen mit einzubeziehen“. Diese Praxis hat er über die Jahre perfektioniert, in seinen Texten und sogar im richtigen Leben: „Versuch gar nicht erst einen Makel zu verstecken – bausche ihn auf!“ Dies hat der spindeldürre Hornbrillenträger Cocker mit der Zurschaustellung seiner Hühnerbrust so weit getrieben, dass er als supersexy gilt und in England zu einer Art Nationalheiligtum avanciert ist.
Auch wenn die nordenglische Industriestadt Sheffield schon früh ein immer wiederkehrendes Thema in Cockers Texten ist – ein umfassendes soziokulturelles Panorama seiner Heimatstadt entwirft er erst nach seinem Umzug nach London 1988.
Er berichtet vom Leben der Arbeiter- und unteren Mittelklasse in den großen Wohnblocks von Park Hill oder Kelvin, verankert seine Protagonisten in Sheffielder Pubs, Straßenzügen oder lässt sie an beliebten Aussichtspunkten Liebe machen. Wie kaum ein Zweiter vermag es Cocker, desillusionierend und sarkastisch über Sex zu schreiben.
Empathie für Frauen
In seinen Songs nimmt er die weibliche Perspektive ein oder schreibt mit Empathie über Frauen. „Letzten Montag hat er seine Meinung geändert, jetzt sollst du schon Sonntag ausziehen. Yeah“, heißt es etwa in „Lipgloss“. Ein besonderer Dorn im Auge ist Cocker, der selbst aus der unteren Mittelschicht stammt, der in den Neunzigern virulente und von New Labour befeuerte Klassentourismus.
Im 1995er-Hit „Common People“ dekliniert der Sänger das Phänomen in die andere Richtung durch: Eine reiche Studentin will leben wie die einfachen Leute und kapiert nicht, welch ein Affront dieser Wunsch für jemanden darstellt, der keine Chance hat: „Wirst niemals wie einfache Leute scheitern. Wirst niemals erleben, wie dir dein Leben entgleitet“.
Eine gnadenlose Abrechnung mit den Britpop-Kollegen von Oasis bis Blur, die sich 1997 willfährig von New Labour vor den Wahlkampf-Karren spannen ließen, unternimmt Cocker in „Cocaine Socialism“. Cocker wurde auch zu Wahlveranstaltungen der Partei eingeladen und merkt an, dass ihm nach Champagnersozialismus „Kokainsozialismus der nächste logische Schritte zu sein“ schien.
Diese und weitere Hintergrundinformationen liefert der Popstar in den launigen Anmerkungen. So nimmt er mit der Zeile „Aber ab sieben ist der Bus zu teuer“ in „Sheffield: Sex City“ die absurde lokale Verkehrspolitik aufs Korn. Die neben dem englischen Original abgedruckten deutschen Übersetzungen sind dem tieferen Verständnis der Texte absolut dienlich. Ein sorgfältigeres Lektorat hätte aber einige Ungenauigkeiten und Übertragungsfehler vermeiden können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!