Japan nach Fukushima: Fast wieder so wie vorher. Fast.
Die Angst schwindet. Medien kritisieren die Regierung, der Atomklüngel entzweit sich ein bisschen. Bei Tepco lässt man den Begriff "Kernschmelze" einfach weg.
TOKIO taz | An der Oberfläche ist in Tokio wieder fast alles beim Alten. Trinkwasser in Flaschen kostet deutlich mehr als früher, wird aber nicht mehr rationiert. Die Regale füllen sich wieder mit Bier und Milchprodukten. Nachbeben sind deutlich seltener zu spüren, und die Züge verkehren in gewohnt kurzen Abständen.
Viel Neonreklame bleibt zum Stromsparen abgeschaltet, was viele Tokioter jedoch eher angenehm finden. Radioaktivität gehört nun zum Alltag, die Angst schwindet. Gemüse und Meeresfrüchte aus dem teilweise verstrahlten Nordosten werden wieder gekauft. Das Leitungswasser ist nicht mehr belastet.
Die Berichte in den großen Zeitungen und den TV-Sendern über den Atomunfall und die Tsunami-Folgen bleiben unaufgeregt. Doch es haben sich kritische Untertöne gegen die Regierung und den Stromversorger Tepco eingeschlichen. Der Korrespondent des staatsnahen TV-Senders NHK bezweifelte in den Hauptnachrichten, dass Tepco den Zeitplan für die Notreparaturen einhalten kann. In der Vergangenheit hatte kein Sender und Verlag den Energieriesen kritisiert, weil er nach Toyota die meisten Anzeigen schaltete. Doch seit das Unternehmen am Rande der Insolvenz steht, ist es mit der Zurückhaltung vorbei.
"Kernschmelze" im Sanierungsplan einfach weggelassen
Die größte Zeitung, Yomiuri, mit einer täglichen Auflage von 14 Millionen, berichtete in dieser Woche, dass bisher nur 10 Prozent der Tepco-Arbeiter in Fukushima auf innere Verstrahlung untersucht wurden, weil es nur drei Messgeräte gebe. "Was unangenehm ist, muss so lange wie möglich ignoriert werden", schreibt die Zeitung Asahi über die Firmenkultur von Tepco: Das Wort "Kernschmelze" würde im neuen Sanierungsplan einfach weggelassen. Dabei weiß die Presse die Bevölkerung auf ihrer Seite. Fast drei Viertel der Japaner sind mit dem Verlauf der Atomkrise unzufrieden.
Das "Atomkraftdorf", wie die enge Kollaboration aus Nuklearaufsicht, Wirtschaft und Wissenschaft von japanischen AKW-Gegnern ironisch bezeichnet wird, zeigt leichte Auflösungserscheinungen. "Atomkraft war lange sakrosankt", sagt der Seismologe Katsuhiko Ishibashi von der Universität Kobe. "Der Unfall von Fukushima beginnt dies zu ändern." So ordnete Premierminister Naoto Kan die Abschaltung des bebengefährdeten AKW Hamaoka ohne den üblichen, zeitaufwendigen Abspracheprozess, "Nemawashi", an. Der Betreiber war von der Entscheidung so überrascht, dass das Management drei Tage für eine Antwort brauchte.
Premierminister Kan hält den Anti-Tepco-Kurs durch
Der mächtige Wirtschaftsverband Keidanren verteidigte Tepco zwar öffentlich, die Firma habe ihre Atomkraftwerke genau nach den staatlichen Richtlinien gebaut. Doch Premierminister Kan hält seinen Anti-Tepco-Kurs durch. Ihm ist die Gunst der Wähler wichtiger. Tepco musste daher unbegrenzte Entschädigungen akzeptieren. Kabinettssprecher Yukio Edano setzte die Tepco-Kreditgeber unter Druck, die Altschulden zu erlassen und so die Zahlungsfähigkeit des Konzerns zu stützen.
Trotzdem muss sich das alte Atomkraftdorf wohl keine allzu großen Sorgen machen. Einen Atomausstieg wird es in Japan so schnell nicht geben. Nur 12 Prozent der Japaner sind laut einer NHK-Umfrage dafür. Lediglich auf den weiteren Ausbau wird verzichtet. Sobald die AKWs besser gegen Tsunami gesichert sind, sollen die über 30 derzeit heruntergefahrenen Reaktoren wieder ans Netz.
Eine Expertenkommission wird die Ursachen der Katastrophe ermitteln. Doch viele Wissenschaftler wurden früher von Tepco für Vorträge und Gutachten hoch bezahlt. Bisher hat zum Beispiel kein Experte die Frage gestellt, warum der Siedewasserreaktor 1 in Fukushima seit über 40 Jahren läuft. "Dieser Reaktortyp ist für eine Lebensdauer von 30 Jahren ausgelegt", erklärt Kurt Heinz, Vizepräsident vom TÜV Rheinland in Yokohama. Dennoch sollten die Fukushima-Meiler 60 Jahre lang laufen.
Die Atomaufsicht Nisa wird wohl aus dem atomfreundlichen Wirtschaftsministerium ausgegliedert. Die Behörde müsste aber schlagkräftiger werden. In Deutschland seien für jedes AKW 50 Prüfingenieure abgestellt, Nisa habe nur 350 für 54 Reaktoren, berichtet TÜV-Experte Heinz. Die AKW-Betreiber in Japan prüfen sich bisher selbst, Nisa stempelte die Berichte einfach ab.
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