: James Joyce der Leinwand
Engagierte Vertreter eines radikal persönlichen Kinos: Peter Sempel setzt mit „Jonas at the Ocean“ die unakademische Beschäftigung mit dem befreundeten New Yorker Experimentalfilmer Jonas Mekas fort
„I‘m looking for the possibilities of order and simplicity through chaos.“ Dieses schöne Motto seines großen Vorbilds Jonas Mekas scheint sich auch der Hamburger Filmemacher Peter Sempel zu eigen gemacht zu haben. Seit vielen Jahren ist er mit der Ikone des New Yorker Avantgarde-Films befreundet und legt nun mit Jonas at the Ocean, nach Jonas in the Desert von 1994, bereits seinen zweiten Film über Mekas vor.
Bedenkt man, dass auch die meisten von Mekas‘ eigenen Filmen – zuletzt der sehr kurzweilige fünfstündige As I Was Moving Ahead Occasionly I Saw Brief Glimpses of Beauty – von dessen eigenem Leben handeln, sollte man meinen, dass der Gegenstand irgendwann erschöpft wäre. Das aber ist bei dem inzwischen 80-Jährigen nicht der Fall. Bis heute ist der in Litauen geborene und 1949 mit seinem Bruder Adolfas von Deutschland aus – wo er nach Kriegsende eine „Displaced Person“ war – in die USA emigrierte Mekas einer der engagiertesten Verfechter eines radikal persönlichen Kinos. Aber es sind vor allem sein äußerst wacher Geist und seine übersprudelnde Lebensfreude, die ihn nie langweilig sein lassen.
Ausgangpunkt des collageartig angelegten Streifzugs durch Mekas‘ Lebensgeschichte ist dessen Buch I Had Nowhere to Go, in dem er von seinen ersten New Yorker Jahren erzählt: „Welcome to america, experience capitalism“, lautet da eine Kapitelüberschrift, „... you‘ll enjoy it.“
Klug setzt Sempel Mekas‘ einnehmende Erzählerstimme ein, und so gerät dieser ins Schwärmen über New York, als der einzigen amerikanischen Stadt, in der es sich für einen Emigranten wie ihn leben lässt – alles wurde vor dem 11. September 2001 gedreht. In alten und neuen Interviews kommen Größen von Allen Ginsberg, Andy Warhol über Robert Frank bis zu Nam June Paik zu Wort; Wim Wenders darf erzählen, wie er im Kino des 1970 von Mekas gegründeten Anthology Film Archive einmal drei Ozu-Filme hintereinander sah. Mekas selbst bezeichnet er als den „James Joyce des Kinos“. „Der Mann mit der Bolex-Kamera“ wäre vielleicht noch passender.
Weil Sempel weiß, dass er sich Dingen und Personen über Musik – er nennt seinen Film „a documentary psychomusic film“ – noch einmal ganz anders nähern kann als durch Interviews, nimmt diese hier noch breiteren Raum ein als schon im ersten Film. Die Spanne reicht dabei von Nick Cave & The Bad Seeds, Lou Reed, John Cale, Einstürzende Neubauten über litauische Volksmusik bis zu Ludwig van Beethoven.
Mag Sempels frei assoziierende Montage von Bildern und Tönen aus unterschiedlichen Zusammenhängen in einem Künstlerporträt zunächst verwegen erscheinen, so entspricht dies doch ziemlich genau den Arbeitsprinzipien des Porträtierten. Von Filmen wie The Brig oder Walden an, aus denen Sempel Ausschnitte zeigt, ist Mekas immer viel mehr interessiert gewesen an den nicht bis ins letzte kontrollierbaren Rythmen und Effekten, die durch Filmmontage erzeugt werden können, als an der Bebilderung eines vorher festgelegten Sinns. ECKHARD HASCHEN
in Anwesenheit des Regisseurs: Di, 21.15 Uhr; Mi, 19 Uhr, Fr, 13.6., 21.45 Uhr, Metropolis