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Jahrestag der Hamburger SturmflutSturmnacht auf der Rettungsinsel

Der Hamburger Dieter Thal schlief selig in einer Flüchtlingsbaracke, als die große Sturmflut von 1962 um ihn herum die Stadt absaufen ließ.

Nur noch das Dach ist zu sehen: abgesoffener PKW auf dem Veddeler Damm. Bild: Dieter Thal

"Für die gesamte deutsche Nordseeküste besteht die Gefahr einer sehr schweren Sturmflut", sagte ein Radiosprecher am Freitagabend um kurz nach halb neun. Die Sondermeldung hörten weder der zwölfjährige Dieter noch seine Eltern Alwin und Gerda Thal. "Bei uns war um acht Uhr Zapfenstreich", erinnert sich Dieter Thal an die Zeit in den Auswandererhallen im Hamburger Stadtteil Veddel, wo der 62-Jährige aufgewachsen ist.

Die Thals und die übrigen Bewohner, die in den eingeschossigen Baracken lebten, bekamen auch von den Deichbrüchen nach Mitternacht nichts mit. Sie verschliefen das Sirenengeheul wie das Hochwasserschießen und träumten, als ihre Umgebung in Nullkommanichts absoff.

Keine 100 Meter westlich und südlich der Auswandererhallen ertranken zur selben Zeit Menschen in ihren Betten oder retteten sich gerade noch auf Hausdächer. Dort harrten sie aus, in dünnen Nachthemden bei vier Grad Lufttemperatur, Sturm und Orkanböen mit bis zu 130 Kilometern in der Stunde.

In der Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962 brachte das Sturmtief "Vincinette" Hamburg die Naturkatastrophe mit den meisten Toten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Sturmflut verwüstete ein Sechstel der Stadt. Eine Fläche von 28 Kilometern Länge und bis zu zehn Kilometern Breite verschwand nach 60 Deichbrüchen innerhalb einer halben Stunde von der Bildfläche.

Mehr als 200 Millionen Kubikmeter Wasser flossen bis zur Innenstadt und überfluteten komplette Wohnviertel, darunter die Insel Wilhelmsburg, Billbrook sowie die Dörfer Neuenfelde und Moorburg. 100.000 Menschen wurden vom Wasser eingeschlossen und gerieten in Lebensgefahr.

"Wir hatten Riesenglück, weil die Auswandererhallen höher lagen", sagt Dieter Thal. Der Versicherungsangestellte und Heimatforscher steht auf seiner Rettungsinsel, die von Bahngleisen, der Autobahn und dem Müggenburger Zollhafen begrenzt wird.

Überall Wasser

Wer die Katastrophe vor 50 Jahren miterlebt hat und nun die alten Schwarzweißbilder mit den Flutopfern, den Rettungskräften und den überschwemmten Stadtteilen auf den Elbinseln sieht, den holen sofort die Erinnerungen ein.

Eine ungefähre Vorstellung von der 1962er Sturmflut in Hamburg bekommt man in einer Sonderausstellung im Auswanderermuseum Ballinstadt auf der Veddel. Die Museumsgebäude stehen auf einem leicht erhöhten Gelände, das damals von den Wassermassen eingeschlossen aber nicht überspült war.

Die Schau zeigt Fotos von der Veddel, von Wilhelmsburg und den benachbarten Gebieten. Dieser Teil Hamburgs war am stärksten betroffen. Außerdem sind ein Schlauchboot sowie Pumpen, Sandsäcke, Fahrzeuge und andere Rettungsgeräte ausgestellt, die damals eingesetzt wurden.

Einen Schwerpunkt bilden Ton- und Videoaufnahmen mit Zeitzeugengesprächen. Retter erzählen von ihren Erlebnissen. Und Betroffene erinnern sich, wie sie dem Chaos entkommen konnten, wie sie Angehörige verloren oder wie ihr gesamtes Hab und Gut im Wasser versunken ist.

Die kleine Auswandererstadt wurde 1900 mit Kirchen, einem Heizkraftwerk, sowie Versorgungs- und Wohngebäuden für Emigranten errichtet. Später diente sie als SS-Kaserne, Kriegsgefangenenlager und Übergangswohnort für ausgebombte Hamburger wie die Thals, die Ende 1963 als letzte Familie das Gelände verließen und in eine Neubauwohnung zogen.

Von den Originalgebäuden steht keines mehr. In drei langgestreckten Rotklinkerbauten, Nachbauten der Baracken, eröffnete 2007 das Auswanderermuseum Ballinstadt, das derzeit eine Sonderausstellung zur Sturmflut zeigt. Dort, wo Dieter Thal vor einem halben Jahrhundert die Horrornacht verschlief, liegt heute ein Park-and-Ride-Parkplatz.

Zur besseren Orientierung hat Dieter Thal einen alten Lageplan von dem Areal mitgebracht. Orkantief Ulli zerrt an der eingeschweißten Plastikkarte und am graublonden Kurzhaarschnitt ihres stämmigen Besitzers. "Damals war es auch sehr stürmisch, es klapperte und schepperte überall", erzählt Thal. "Aber das war normal. Die Gebäude waren baufällig und wurden nacheinander abgerissen, sobald die Bewohner ausgezogen waren."

Die Thals wunderten sich am frühen Samstagmorgen des 17. Februar auch nicht über den Stromausfall. Das passierte immer wieder. Taschenlampen und Kerzen lagen stets griffbereit. Doch abgesehen vom Heulen des Windes herrschte eine ungewöhnliche Ruhe. Wo waren das Rumpeln der endlosen Kohlenzüge und das ständige Verkehrsrauschen auf der nahen Veddeler Brückenstraße?

"Mein Vater wollte wie immer mit dem Rad zur Arbeit auf der Werft", erinnert sich Thal. "Er kam im Dunkeln aber nur einige Meter weit, weil wir vom Wasser eingeschlossen waren." Mittlerweile hatten auch die übrigen Bewohner der Auswandererhallen bemerkt, dass etwas nicht stimmte.

Dieter Thal hat noch die hektisch tanzenden Taschenlampenkegel vor Augen und die aufgeregten Stimmen in den Ohren. "Es wusste ja niemand, was los war. Telefon hatte hier keiner und das Radio ging nicht." Dieter und die anderen kletterten auf den Bahndamm und sahen in der Dämmerung die Katastrophe.

Wasser, soweit das Auge reichte. Bäume lugten heraus und Dächer, die krumm und schief standen, Treibgut schwamm umher. "Durch den pfeifenden Wind drangen Schreie und Hilferufe zu uns", erzählt Thal. Hinter den Gleisen lebten ebenfalls Ausgebombte und Flüchtlinge. Deren kleine Steinhäuschen und einfachen Bretterbuden waren für viele Bewohner zu tödlichen Fallen geworden.

Die Gegend gehört zum Stadtteil Wilhelmsburg, wo man die meisten Toten zählte. Insgesamt verloren 340 Menschen ihr Leben. Von den 315 Hamburger Opfern stammten 222 aus Wilhelmsburg. Über Nacht waren mehr als 20.000 Hanseaten obdachlos geworden.

Im Gegensatz zu Cuxhaven, Bremerhaven und Bremen, wo die Bevölkerung ausdrücklich vor der Sturmflut gewarnt worden war, hatten die Hamburger Behörden die Gefahr falsch eingeschätzt. Entsprechend sorglos waren die Menschen ins Wochenende gestartet, waren tanzen oder feiern gegangen.

In der Nacht verhinderten die zusammengebrochenen Strom- und Telefonnetze koordinierte Rettungsaktionen. Die offizielle Hilfe kam erst am Samstag nach und nach in Gang. Motor war Innensenator Helmut Schmidt. Der spätere Bundeskanzler erwies sich als beherzter Krisenmanager und bat auch die Bundeswehr um Unterstützung sowie ausländische Truppen. "Ich habe das Grundgesetz nicht angeschaut in jenen Tagen", kommentierte Helmut Schmidt später seine Entscheidung.

Die Verfassung verbot, die Bundeswehr im Inneren einzusetzen. Erst die Notstandsgesetzgebung 1968 ließ sie zur Katastrophenhilfe zu. Insgesamt kamen weit über 20.000 zivile und andere Helfer aus ganz Europa nach Hamburg.

Mit Booten und Hubschraubern retteten die Männer Menschen und Tiere aus vollgelaufenen Häusern oder von Dächern. "Fliegende Engel" nannten die Flutopfer die Helikopter-Besatzungen, die unter Einsatz ihres Lebens allein mehr als 1.100 Menschen bargen.

Einige Soldaten waren auch auf dem Gelände der Auswandererhallen stationiert, sagt Dieter Thal. "Zuerst gab es nur Schlauchboote, die durch Stacheldraht oder andere Gegenstände oft zerfetzt wurden. Die Sturmboote der Pioniereinheiten eigneten sich besser."

Für den jungen Dieter und seine Freunde bedeutete das tödliche Chaos ein großes Abenteuer: "Die Bedrohung sahen wir als Kinder nicht, dazu waren wir zu naiv." Während Vater Thal sofort nach der Oma schaute, ob die in ihrer Hochparterre-Wohnung jenseits des Zollhafens "nasse Füße gekriegt hatte", watete der Sohnemann durch die gefluteten Straßen auf der Veddel und knipste mit einer "Agfa Clack" Wohnungen, Läden, Autos unter Wasser. Einige der Fotos hängen in der Flut-Ausstellung der "Ballinstadt".

Eine Woche nach der Sturmflut hoben die Behörden den Ausnahmezustand wieder auf. Die Aufräumarbeiten dauerten wesentlich länger. In dem später planierten Wilhelmsburger Kleingartengebiet oder im Stadtteil Waltershof wohnte nach dem Unglück niemand mehr. Heute siedelt dort Gewerbe.

In den Jahren nach der Sturmflut beschleunigte der Hamburger Senat wie die übrigen Küstenländer den Ausbau des Hochwasserschutzes. Im gesamten Stadtgebiet wurden die Deiche auf 7,20 Meter erhöht. So überstand Hamburg 1976 die nächste "Jahrhundertflut" ohne größere Schäden, obwohl der Pegel mit 6,45 Metern sogar 75 Zentimeter über der 1962er Sturmflut lag.

Vor drei Jahren legte die Elbmetropole nach. Seitdem liegen die Deichkronen 8,50 bis 9,25 Meter über Normalnull.

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