Jahrestag Revolutionsbeginn in Libyen: Hormone und Waffen
Es herrscht eine zerbrechliche Machtbalance in Libyen, Ehre geht bisweilen vor Gesetz. Und Macht hat, wer am meisten Feuerkraft besitzt.
TRIPOLIS taz | Auf dem ehemaligen Grünen Platz, dort, wo Muammar al-Gaddafi seine letzte Rede gehalten hat und der inzwischen Platz der Märtyrer heißt, mischen sich männliche Hormone und schwere Waffen zu einer explosiven Mischung. Hunderte von Pick-ups mit aufgepflanzten Maschinengewehren und Pkws mit Männern, die mit ihren Kalaschnikows winken, haben sich zu einer bizarren Parade zusammengefunden.
Es ist eine wilde Mischung aus Che Guevara, Prophetenbärten und glattrasierten Gesichtern mit militärischen Kurzhaarschnitten. Manche der Männer liegen auf den Rohren der auf den Fahrzeugen montierten Flugabwehrgeschützen, die sie wie ein Karussell drehen, bis ihnen schwindlig wird. Bereits die ganze Woche feiern sie schon den Beginn des Aufstandes gegen Gaddafi, der vor einem Jahr begonnen hat. Der eigentliche Jahrestag wird an diesem Freitag begangen.
Einem Auswärtigen vermitteln diese Paraden nicht gerade ein Gefühl der Sicherheit. Aber viele Passanten stehen am Rand und feiern mit, feuern den Triumphzug mit einem "Gott ist groß"-Ruf an. In der Omar-Mukhtar-Straße ein paar hundert Meter weiter will eine Familie in einem Spielzeugladen einen fahrbaren Untersatz für den Sprössling kaufen und sucht zwischen pinkfarbenen Dreirädern und metallicglänzenden Rollern das Richtige aus, ohne die waffenstrotzende Revolutionsparade überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Alltag in Tripolis.
Der regierende Übergangsrat hat Feuern in die Luft strengstens untersagt. Doch das wird ignoriert. Die Bewaffneten schießen aus allen Rohren mit ihren Kalaschnikows und sogar mit den Luftabwehrgeschützen. Viele der waffenstrotzenden Rebellen kommen nicht aus der Hauptstadt, sondern aus Sintan oder Misurata.
Mit ihrem Auftreten unterstreichen sie, dass die neuen Herrscher des Landes ihre Interessen zur Kenntnis nehmen müssen. Es herrscht eine zerbrechliche Machtbalance in Libyen, die auch darauf aufgebaut ist, wer am meisten Feuerkraft besitzt. Macht ist derzeit in Libyen ein begrenztes Gut.
Nach den neuesten Meinungsumfragen sind die meisten Libyer trotz des Chaos mit der Zeit nach Gaddafi zufrieden, wenngleich immer noch Sorge herrscht, dass das alte Regime in irgendeiner Form zurückkommen könnte. Deren einstige Anhänger verhalten sich still. Nur manchmal setzen sie kleine Zeichen, dass es sie noch gibt. Ein mit Gas gefüllter Ballon steigt über den Häusern unweit des Zentrums von Tripolis auf. Eigentlich nichts Besonderes, wäre er nicht grün, die Farbe Gaddafis und seiner Anhänger. Hat sich hier jemand einen Scherz erlaubt oder ist das ein Statement?
"Diese Hundesöhne", flucht der Fahrer, der wohl eher an Letzteres glaubt. Die Revolutionäre würden das Viertel gleich durchkämmen, kündigt er an.
Sie sind überall, haben an den großen Einfahrtsstraßen Straßensperren errichtet, nicht, um ernsthaft Fahrzeuge untersuchen, sondern eher, um Präsenz zu zeigen. Man weiß schließlich nie. Gerade hat ein Sohn Gaddafis, Saadi, im benachbarten Niger angekündigt, einen Aufstand gegen die einstigen Aufständischen anzuzetteln.
Neues Zuhause in den Ruinen Gaddafis
Während die einen in dem ölreichen Land um Macht und Einfluss ringen, kämpfen anderen um das tägliche Überleben. Die Armen sammeln sich unter anderem in Bab al-Asisija, der einstigen, fast völlig zerstörten Festung Gaddafis in Tripolis. Al-Hadi al-Schawesch ist einer dieser Hausbesetzer der besonderen Art. Mitten in den Ruinen, dort, wo früher Gaddafis Offiziere hinter dicken Mauern lebten, bezieht seine neunköpfige Familie ihr neues Zuhause.
400 Meter Stromkabel hat er von draußen gezogen, erzählt er. Einen Wasseranschluss für die Küche gibt es noch nicht. Aber die rußgeschwärzten Wände des ausgebrannten Gebäudes hat er bereits gestrichen. "Miete zu zahlen kann ich mir mit meinen Monatsverdienst im Krankenhaus nicht leisten", sagt er. Umgerechnet bringt er 350 Euro mit nach Hause. Was brauche man mehr als ein Dach über dem Kopf, Strom und Wasser? "Wenn sich die Lage im Land verbessert, bekomme ich vielleicht von der Regierung ein Haus", hofft er.
Natürlich sei es etwas unheimlich, in den Ruinen des Herzstücks des alten Systems zu wohnen, wo sich nachts allerlei Diebe draußen herumtreiben. Auch Prostituierte gehen in der Nachkriegs-Mondlandschaft ihren Geschäften nach.
In einem Flüchtlingslager am Rande von Tripolis, umgeben von Mauern und Zäunen, haben die Bewohner ganz anderes Probleme als die Hausbesetzer von Bab al-Asisija. In den Baracken leben Menschen aus Tawargha, Libyer, deren Vorfahren Sklaven aus den Ländern südlich der Sahara waren. Schwarzafrikaner wurden während des Krieges pauschal für Söldner Gaddafis gehalten, willkürlich festgenommen, gefoltert und in manchen Fällen getötet.
Aus Tawargha stammen viele Anhänger Gaddafis, die damals die Hafenstadt Misurata angegriffen haben. Sie waren berüchtigt für ihre Brutalität, mit der sie im Namen des Regimes gegen die Aufständischen vorgegangen sind. Im neuen Libyen sind sie so etwas wie Vogelfreie.
"Wir sind hier eingesperrt"
"Die Rebellenmilizen fallen immer wieder in das Lager ein und nehmen willkürlich Menschen fest", erzählt Gumaa Jera, einer der Flüchtlinge im eigenen Land. "Wenn wir das Lager verlassen, dann laufen wir Gefahr, gefangen genommen zu werden. Sie entführen uns und bringen uns an unbekannte Orte, meist nach Misurata selbst." Oft höre man nie wieder von denen, die rausgegangen und nicht mehr zurückkommen seien. Manubia Saleh, eine ältere Frau, gesellt sich hinzu.
Sie zieht ihren Umhang über dem Kopf tiefer ins Gesicht. "Das ist ein miserables Leben hier. Es ist zum Heulen", klagt sie. "Wir sind hier eingesperrt wie Gefangene. Wenn du rausgehst, ist das, als betrittst du besetztes Gebiet. Und dann kommen sie immer hier rein und nehmen einfach mit, was sie wollen."
Ein paar Kilometer vom Lager entfernt fährt Aiman Machsoum Patrouille. Er ist einer der Rebellen aus Misurata, der jetzt in die neu gebildete Armee integriert wurde. Wenn er nur das Wort Tawargha hört, verzieht sich sein Gesicht vor Wut. "Mit denen kann es keine Aussöhnung geben. Sie haben gebrandschatzt, vergewaltigt und gemordet", erklärt er. Manche von ihnen hätten den Frauen einfach die Ohren abgeschnitten, um an ihre goldenen Ohrringe zu kommen, sagt er weiter. "Aber vor allem bei den Vergewaltigungen geht es um unsere Ehre. Das hatte nichts mit dem Krieg oder der Front zu tun. Das war keine willkürliche Aktion, sondern eine beabsichtigte, systematische Operation. Jetzt herrscht eben zunächst einmal das System der Blutrache", beharrt er.
Die Lösung des Problems sei schwer und leicht zugleich, meint sein Kollege Saleh. "Schwer, weil es hier um die Ehre geht, leicht, weil die Tawargha einfach nur diejenigen ausliefern müssen, die das getan haben, damit nicht alle bestraft werden", erläutert er.
Statt einer Kollektivstrafe für alle Menschen aus Tawargha müssten sich die Gerichte mit dem Fall beschäftigen. Wer getötet und vergewaltigt hat, sollte bestraft, der Rest der Tawargha aber entlastet und freigesprochen werden. Doch die Gerichte befinden sich, wie alle Institutionen in Libyen, bestenfalls im Aufbau. Muammar al-Gaddafi ist tot. Aber die Wunden, die der Krieg in Libyen geschlagen hat, sitzen tief. Sie zu heilen braucht vor allem zwei Dinge: Rechtsstaatlichkeit und Zeit.
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