Jagd auf Migranten in Russland: Willkür von Schleppern ausgeliefert
Russische Behörden gehen hart gegen Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien vor. Deren Verwandte in Kirgistan verfolgen es mit Sorge.
BISCHKEK taz | Seit Beginn der ständigen Razzien gegen Kaukasier und Menschen aus Zentralasien in Russland – zuletzt nach den Terroranschlägen in Wolgograd zum Jahreswechsel – hat Merim Akmatowa Angst um ihre Schwester. „Das lässt einen keine Minute los“, sagt die 53-jährige Kirgisin auf dem Basar in Bischkek. Akmatowa, gekleidet mit einem weißen Kopftuch und einer Strickjacke, steht vor Pyramiden roter Äpfel und Granatäpfel in der offenen Markthalle in der kirgisischen Hauptstadt. Akmatowa poliert die Äpfel, kommt ein Kunde, wird gefeilscht, dann legt sie die Früchte auf die Waage.
Ihre zehn Jahre jüngere Schwester Dila arbeitet seit drei Jahren in der russischen Hauptstadt. „Seit Kurzem sogar in einem richtigen Geschäft“, sagt die Kirgisin stolz. Die Familie in Bischkek versorgt Dilas zwei Kinder. Regelmäßig schicke die Schwester Geld. „Was ich hier verdiene, reicht nicht“, gibt Akmatowa zu, aber nun solle Dila besser heimkommen.
Am Bildschirm wurde Akmatowa Zeugin eines Pogroms. Tausende Russen machten am 13. Oktober im Moskauer Stadtteil Birjuljowo Jagd auf Gastarbeiter aus dem Kaukasus und Zentralasien und plünderten unter rassistischen Parolen ein Einkaufszentrum und Geschäfte, wo vermeintliche „Schwarze“ – so der abfällige Jargon – arbeiteten. Zuvor war ein Russe getötet worden, der Mob machte die Gastarbeiter dafür verantwortlich.
Wie die Schwester der Marktfrau arbeiten Millionen Menschen aus den ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken in Russland. In der Hochsaison im Sommer finden sich in kirgisischen oder tadschikischen Dörfern kaum mehr arbeitsfähige Bewohner.
Zusammengepfercht in Waggons
Die Migranten aus Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan sind in Russland der Willkür von Arbeitgebern und Schleppern ausgeliefert, leben zusammengepfercht in kleinsten Unterkünften oder gar Waggons, immer auf der Flucht vor Polizei oder Schlägerbanden. „Meine Schwester geht kaum noch auf die Straße“, sagt Akmatowa.
Die Stimmung ist schon lange angeheizt. Seit Monaten schwelt in der russischen Öffentlichkeit eine ausländerfeindliche Debatte, auch vermeintliche Demokraten beteiligen sich an dem Migrantenbashing. Immer mehr russische Politiker fordern eine Visumspflicht für Arbeiter aus den zentralasiatischen Staaten.
Der kirgisische Politologe Mars Sarijew macht eine fehlende Integrationspolitik in Russland für die Exzesse verantwortlich: Die russische Bauwirtschaft und der Handel fußten auf der Ausbeutung der entrechteten Gastarbeiter. Diese suchten in der organisierten Kriminalität Schutz vor Übergriffen – eine Verbindung, die die russische Bevölkerung empöre. „Die Bilder von Birjuljowo haben mich erschreckt“, sagt der kirgisische Vizeaußenminister Erines Otorbajew der taz. Er sei jedoch sicher, dass es keinen Visumzwang geben werde, da dies russischen Interessen widerspreche.
Der Kreml baut seinen Einfluss in der Region zwischen Kaspischem Meer und Chinas Westgrenze aus. Unter Hochdruck arbeitet Russland an einer eurasischen Zollunion. Mit Kirgistan und Tadschikistan hat Moskau zudem eine langfristige Stationierung russischer Truppen vereinbart. „Die Ausschreitungen gefährden nicht die guten Beziehungen“, versichert der Diplomat in Bischkek. Zumal das wirtschaftliche Überleben in Zentralasien an den Überweisungen der Gastarbeiter hängt. 2011 überwiesen nach Erkenntnissen der Weltbank Gastarbeiter aus Russland rund 6 Milliarden US-Dollar in ihre Heimatländer.
Und dennoch: „Sollten die Millionen Gastarbeiter zurückkehren, würde das hier die Regierungen hinwegfegen“, ist der Politologe Sarijew überzeugt. Falls die Menschenjagd in Russland nicht aufhöre, könne das auch in Zentralasien zu antirussischen Ausschreitungen führen.
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