Italienischer Film "Stilles Chaos": Pietro will nicht mehr
Antonello Grimaldis neuer Film über die Lebenszeit und der Suche nach dem richtigen Tempo. Hauptdarsteller Nanni Moretti gibt dabei den unsentimentalen Verweigerer.
Ein Mann resigniert. Er gibt auf, bleibt sitzen, legt die Hände in den Schoß und tut gar nichts mehr. Davor war seine Frau, als er am Strand war, in der Ferienwohnung tot zusammengebrochen, in dem Augenblick, da er in die Wellen sprang, um eine andere Frau vor dem Ertrinken zu retten. Inzwischen liegt seine Frau auf dem Friedhof, und die Schule fängt an. Seine kleine Tochter verschwindet im Schulgebäude, er geht über den kleinen Park zurück zum Auto, setzt sich hinein, doch er fährt nicht los.
Zuerst noch hebt sich die Hand wie ein Muskel, der es gewohnt ist, jahrein, jahraus zur selben Uhrzeit am Schlüssel zu drehen. Doch dann sinkt die Hand zurück in den Schoß und bleibt reglos dort liegen. Eine seltsame Veränderung geht vor sich, still und reglos, und von keinem willentlich beschlossen. Pietros Leben stoppt, und je langsamer die Umdrehungen werden, desto mehr weiten sich Pietros Augen.
"Caos calmo", zu Deutsch "Stilles Chaos", ein Film von Antonello Grimaldi mit Nanni Moretti in der Hauptrolle, ist ein Film über die Lebenszeit und die Frage, in welchem Tempo man am meisten von ihr haben kann. Denn obwohl in Pietros Leben alles eingerichtet war, damit es ausgefüllt schien, Beruf, Familie, Wohnung und Ansehen, ist ihm doch bei näherer Betrachtung das Wichtigste davon fremd. Entschleunigt stellt sich heraus, dass ihm sein Dasein so unbekannt ist, dass er es jetzt mit großen Augen bestaunt. Sein Kind muss er erst einmal kennenlernen. Und noch bevor er ihm hilfreich sein könnte, sind es das Kind und dessen kleine Welt, die es ihm ermöglichen, in der Gegenwart anzukommen, der er bis jetzt rasant davongeeilt war.
Sein Alltag bewegt sich fortan im Pinienquadrat eines Parks vor dem Schulgebäude. Ähnlich wie die Kamera, die anfangs noch weit über den Dingen schwebte, um sich dann auf Augenhöhe des Protagonisten niederzulassen, schärft sich der Blick für das, was sich weitab von seiner Berufswelt hier täglich ereignet. Nichts Großartiges, nur lauter einzelne Menschen, die täglich zur selben Uhrzeit auftauchen und wieder verschwinden. Das Leben hört nie und nirgends auf, sich anzubieten, auch nicht, sich anzubiedern. Wie es die Mitarbeiter und Geschäftsmenschen aus seinem Berufsfeld tun, lauter Verrückte, Jäger und Gejagte zugleich, die sich mit dem Vorwand, sich um ihn zu sorgen, immer öfter an ihn wenden.
Pietro dagegen interessiert sich mehr dafür, Verzeichnisse aufzustellen; eines über die Fluggesellschaften, mit denen er geflogen ist; eines der Adressen, unter denen er gewohnt hat; ein Verzeichnis der Orte, an die er nie wieder zurückkehren möchte; ein Verzeichnis der ekelerregenden Momente in seinem Leben.
Nanni Moretti spielt den Verweigerer wunderbar unsentimental. In einer seltsam schönen, interesselosen Wachsamkeit verfolgt er die junge Frau mit dem Bernhardiner, die täglich zur selben Uhrzeit vorbeikommt. Einmal nur sie ansprechen, und er wäre neu involviert. Auch legen ihre Schönheit und die Weise, wie die Kamera sie fokussiert, ganz klar nahe, dass es sich hier um den klassischen Beginn einer Geschichte handeln könnte. Doch muss die sein? Die Frage scheint nicht nur Pietro mit Nein zu beantworten, sie zielt auch auf filmästhetische Überlegungen. Sollen Geschichten immer beschleunigt und vernetzt sein, um sie bestmöglich zu dramatisieren? Und ist dramatisch immer aufregend?
Wie in den meisten Filmen von oder mit Nanni Moretti wird das Filmemachen mitreflektiert; auch in diesem Film liegt das berufliche Umfeld des Protagonisten im Filmgeschäft, diesmal endgültig als korrupt und mafiös dargestellt. Es ist in seiner Aufgeregtheit außerdem ausgesprochen unaufregend, was für viele schön komische Momente sorgt.
Wenn Nanni Moretti in seinem letzten Film, "Il caimano" (dt. "Der Italiener"), bei dem er selbst die Regie führt, seinen Hauptdarsteller, den Filmproduzenten, in die Zentrifugalkraft einer höllisch beschleunigten Wirklichkeit hineingeraten lässt, dem die Trümmer seiner Existenz um die Ohren fliegen, dann erweist sich "Stilles Chaos" als das genaue Gegenstück dazu.
Pietro wird gerade der Bruchstücke seines Lebens gewahr und beschließt, erst mal keine neuen zu bilden. Statt im Schnelllauf neben ihm wandert die Kamera oft allein umher, ohne ihn. Jeder Ansatz zu einer Geschichte wird von ihm ausgeschlagen. Pietro will nicht mehr hineingezogen werden.
Beide Filme drehen sich darum, in welchen Geschwindigkeiten sich jeweils welche Geschichten oder Ereignisse herausbilden. Und auch darum, wer gerade wem zu folgen hat: der Protagonist der Einstellung oder die Einstellung dem Protagonisten.
Auch ohne straff gezogene Fäden ist "Stilles Chaos" kein beschaulicher Film, sondern durchaus chaotisch, nur ist das Chaos sinnloser, und eben: stiller.
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