piwik no script img

Italien Alessandra Clemente war zehn Jahre alt, als ihre Mutter von der Camorra umgebracht wurde. Heute kümmert sie sich um junge Mafia-Mitglieder im GefängnisDie Mörder ihrer Mutter

AUS NEAPEL Linda Tutmann

Die Kugel der Camorra traf Silvia Ruotolo unterhalb des Herzens. An der einen Hand hielt sie ihren fünfjährigen Sohn, in der anderen die Einkaufstüte mit dem Baguette. Hätte sie doch das Brot vorher nicht vergessen zu kaufen. Am 11. Juni 1997 war das, um kurz nach eins. Ein Sommertag in Neapel. Sie war sofort tot.

Viele Jahre später steht ihre Tochter Alessandra Clemente mit einer Zigarette in der Hand auf dem Balkon ihres Büros und stößt Rauch in die warme Frühlingsluft. Sie ist 26 und Abgeordnete im Stadtrat von Neapel. Offene Haare, ein rundes Gesicht mit Stupsnase und grünem Lidschatten. In der Ferne verschwindet der Vesuv in den Wolken. Das Knattern der Motorräder hallt von der Straße bis in den vierten Stock. Vor dem Gebäude hat sich eine Gruppe Arbeitsloser versammelt. Sie strecken ein rotes Transparent in die Höhe: „Sichere Arbeit für das Prekariat“ steht dort. Die Wirtschaftskrise, die den Süden Italiens besonders hart getroffen hat, hat sie vor das Rathaus getrieben.

In ihrem Inneren tobt es

Für die Camorra ist das gut. Je aussichtsloser die Situation der Menschen, desto leichter ist es für die Mafia-Organisation, junge Verzweifelte anzuwerben. Die, die dann für die Camorra arbeiten, landen oft irgendwann im Gefängnis. Dort treffen sie dann Alessandra Clemente. Einmal die Woche geht sie ins Jugendgefängnis in Neapel. Sie spricht mit jungen Mafia-Mitgliedern über ihre Taten, übt mit ihnen Theaterstücke ein, sie nehmen Lieder auf, drehen zusammen Videos. Clemente will ihnen helfen, nach der Entlassung ein neues Leben anzufangen.

Sie ist aufgewühlt. Ein Gespräch über ihren ganz eigenen Kampf gegen die Camorra heißt für sie auch immer, von ihrer Mutter zu erzählen. Das schmerzt, auch nach all den Jahren: „Sie fehlt mir, jeden Tag.“ Ihre Stimme wird leiser, sie geht jetzt zurück ins Zimmer, schließt die Balkontür. Schlagartig wird es still in dem Raum. Zwei Flaggen hängen in der linken Ecke, die italienische und die europäische. Für einen Moment verharrt sie in der Mitte des Zimmers, unschlüssig, geht dann um den Schreibtisch herum und nimmt einen Bilderrahmen vom Schreibtisch. Eine Frau, Ende dreißig, am Meer, ihre Haare wehen im Wind. Sie scheint den Fotografen nicht zu sehen, blickt in die Ferne. „Sie war wunderschön“, sagt Clemente. Sie schlägt die Beine übereinander, richtet sich auf. Nach außen soll alles stimmen, wenn es im Inneren tobt. Erst kommen die Sätze abgehackt, als wisse sie nicht, wo sie anfangen soll, um alles logisch zu erklären. Es bleibt eine Geschichte, in der jede Logik fehlt. Ein blöder Zufall, könnte man sagen, wenn am Ende nicht eine Unschuldige gestorben wäre.

Silvia Ruotolo, Clementes Mutter, wohnte in Vomero, nahe dem Zentrum von Neapel. Eine beliebte Gegend, Einfamilienhäuser reihen sich aneinander, viele haben kleine Vorgärten. Ruotolo arbeitete dort als Lehrerin in einer Vorschule. Auf dem Rückweg vom Einkaufen geriet sie in einen Schusswechsel zwischen verfeindeten Camorra-Familien.

Es gibt keine Erleichterung

Ihre Tochter, Alessandra Clemente, lernt gerade für eine Klassenarbeit, als sie Schüsse und Schreie von der Straße hört. Sie läuft auf den Balkon der Wohnung im neunten Stock. Von diesem Moment auf dem Balkon weiß sie heute nicht mehr viel. Außer, dass sie dort auf der Straße ihre Mutter liegen sah, um sie herum alles rot. Ihren blauen Rock, den erkannte sie. Dann: „Panik, nur Panik.“ Sie spricht immer schneller, die Angst von damals hetzt auch heute ihren Erzählfluss. Immer noch hat sie das Foto ihrer Mutter auf dem Schoß.

Nachdem Clemente begriffen hat, was passiert war, rennt sie aus der Wohnung. Der Aufzug kommt nicht, sie nimmt die Treppen. Stockwerk für Stockwerk, Stufe für Stufe. Im vierten Stock wohnt ein Freund der Familie. Er hält sie fest. „Bleib hier!,“ habe er gesagt. Geweint habe sie die ganze Zeit, natürlich.

Alessandra Clementes Leben lässt sich schon nach 26 Jahren in drei Phasen einteilen. Die Zeit bis zum Tod ihrer Mutter: „Puppen, Träume, spielen, nicht viel mehr.“ Sie lächelt. „Was Mädchen halt so machen.“ Dann passierte das, wofür sie kein richtiges Wort findet. Sie sagt oft „Unfall“ oder einfach „es“. Die Zeit danach, sie zuckt die Achseln: „Irgendwie ging es weiter. Ich wollte einfach ein normales Mädchen sein.“ Stattdessen berichten die Zeitungen von dem Tod ihrer Mutter. Ein Polizeiwagen wacht vor ihrer Haustür, auch vor der Schule. Sie haben Angst, dass die Camorra ihren kleinen Bruder umbringt, weil er die Täter identifizieren könnte. Ihr Vater geht ins Gericht, einmal im Monat, zwei Jahre lang. Er sagt gegen die Camorra aus. „Er war so stark“, sagt Clemente. Die Täter bekommen „lebenslänglich“. Die Verurteilung ist das Ende eines langen Prozesses, aber die erhoffte Erleichterung oder gar ein Triumph stellen sich nicht ein. Stattdessen fühlt sie sich leer. „Sie bleibt ja tot.“

Nach dem Abitur verändert sich etwas. Plötzlich will sie nicht mehr verdrängen, sondern etwas tun: „Es war wie eine Explosion“. Sie studiert Jura, Gerechtigkeit hat sie immer interessiert. Im Gericht merkt sie, dass ihr diese Arbeit zu nahe geht. „Als Richter muss du in der Mitte sein. Ich bin nicht in der Mitte.“ Das, was sie dort erlebt, ist viel zu oft ihre eigene Geschichte.

Als sie die Schüsse hört, die ihre ­Mutter töteten, lernt ­Alessandra Clemente für eine Klassenarbeit. Vom Balkon aus erkennt sie den blauen Rock, drumherum alles blutrot. Dann war danur noch Panik

In Clementes Büro, über ihrem Schreibtisch: eine Fotocollage. Auf den Bildern sieht man sie zusammen mit Camorristen im Gefängnis. Nein, sie hasse diese Jungen nicht. „Warum auch? Sie sind doch fast noch Kinder. Sie träumen von teuren Uhren, teuren Autos, davon, einmal Chef zu sein.“ Jungen Mafia-Mitgliedern zu helfen, war die Idee ihres Vaters: Einer, der bei dem Schusswechsel dabei war, war noch sehr jung, 17 Jahre alt. „Mein Vater ging so mit seinem Schmerz um.“ Heute tut sie es ihm nach.

Zusammen weinen

Mit dem Geld, das ihre Familie vom Staat als Opfer der Camorra bekam, gründete ihr Vater eine Stiftung. Sie finanziert die Projekte für die jungen Camorristen im Gefängnis. Clemente klappt ihren Laptop auf, geht auf YouTube. Italienische Popmusik erklingt. „Die Stimme ist toll“, sagt sie. Es ist die Stimme eines Camorra-Mitgliedes, das Video hat Clemente mit ihm gedreht.

Einer der Entlassenen hat ihr neulich, ganz altmodisch, einen Brief geschrieben. „Als ich mit dir geweint habe, ist mir erst bewusst geworden, was ich getan habe“, schrieb er.

Den Mörder ihrer Mutter hat Clemente nie getroffen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen