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Istanbuler Bahnhof HaydarpasaEin Symbol wird verramscht

Schöpferische Bahnhofszerstörung im Kapitalismus gibt es nicht nur in Stuttgart: Der Kopfbahnhof Haydarpasa in Istanbul wird ausgemustert. An seine Stelle kommt eine Mall.

Der Kopfbahnhof Haydarpasa in Istanbul. Bild: imago/suedraumfoto

Istanbul. Ein scharfer Wind weht vom Meer auf das große Eingangsportal des Bahnhofs. Schneeschauer sorgen dafür, dass das gesamte Gelände um den Bahnhof herum bereits jetzt schon so verlassen daliegt, wie es in ein paar Wochen endgültig der Fall sein wird. Haydarpasa, der berühmte Kopfbahnhof auf der asiatischen Seite Istanbuls, der Bahnhof, von dem aus die Züge nach Anatolien und weiter bis nach Russland und in den Nahen Osten rollten, wird bald Geschichte sein. Dabei ist Haydarpasa nicht irgendein Bahnhof. Er ist, oder besser gesagt war, wie eine große Anschlagtafel neben dem Eingangsportal immer noch verkündet, "ein Symbol der engen Verbundenheit zwischen Deutschland und der Türkei".

Der Kopfbahnhof Haydarpasa wurde von Mai 1906 bis August 1908 von deutschen Architekten, mit deutschem Geld von türkischen, deutschen und italienischen Arbeitern gemeinsam erbaut. Er war der Ausgangspunkt der legendären Bagdadbahn, mit der das deutsche Kaiserreich seine Träume von einer Expansion in den Orient verwirklichen wollte.

In enger Partnerschaft mit dem damaligen Osmanischen Reich, basierend nicht zuletzt auf der persönlichen Freundschaft des deutschen Kaisers Wilhelm II. mit dem letzten, mit absolutistischer Machtfülle regierenden osmanischen Sultan, Abdülhamid II., wollte das Deutsche Reich neuen Siedlungsraum in Mesopotamien, entlang von Euphrat und Tigris, für sich erschließen und dort die Baumwolle produzieren, mit der die deutsche Textilindustrie sich von Lieferungen aus den USA unabhängig machen sollte.

Als das Deutsche und das Osmanische Reich ab 1914 dann im Ersten Weltkrieg gemeinsam gegen Russen und Briten im Nahen Osten und im Kaukasus kämpften, wurden die bis dahin fertiggestellten Teile der Bagdadbahn zur wichtigsten Nachschublinie für die gemeinsame Front.

Schlimmer Brand im November 2010

Von all dem ist heute nichts mehr zu spüren. Der Bahnhof wurde zwar in den Achtzigern noch einmal umfangreich restauriert, doch ein schlimmer Brand im Dachgeschoss im November 2010 wurde schon nur noch provisorisch repariert und lässt das Symbol der deutsch-türkischen Freundschaft seitdem etwas derangiert aussehen.

Während die eigentliche Bahnhofshalle noch in altem Glanz erstrahlt, sind die Gleisanlagen bereits tot. Der Zugverkehr wurde in der ersten Februarwoche eingestellt, jetzt fährt nur noch die Banliyö Trenleri, eine Mischung aus S-Bahn und Nahverkehrszug, der die Vororte entlang des Marmarameeres mit dem Zentrum verbindet. Aber auch damit wird in einigen Wochen Schluss sein, spätestens anfang Mai wird auch die S-Bahn gekappt.

Haydarpasa ist ein riesiger, neoklassizistischer Bau von knapp 4.000 Quadratmeter Fläche, den die beiden deutschen Architekten Otto Ritter und Hellmuth Cuno mehr oder weniger ins Meer stellten. Er ist auf einer Plattform erbaut worden, die auf 1.100 Pfählen aus 21 Meter langen wasserfesten Eichenstämmen ruht. Dadurch können die Passagier- und Eisenbahnfähren von europäischer Seite aus direkt am Bahnhof anlegen und Züge und Pendler in Asien abliefern.

Bei seiner Einweihung im August 1908 verbanden die deutschen Investoren große Hoffnungen mit dem Bahnhof und dem sich daran anschließenden anatolischen und letztlich mesopotamischen Schienennetz. Die Deutsche Bank war Konsortialführerin der Bagdadbahn-Gesellschaft und hatte im Vorfeld bereits etliche Expertisen in Auftrag gegeben, um die Rentabilität des Projekts untersuchen zu lassen.

Einst Ausgangspunkt der Bagdadbahn

Anbauflächen entlang der projektierten Strecke wurden untersucht, das Gelände des "fruchtbaren Halbmondes" in Nordmesopotamien, entlang von Euphrat und Tigris, das in der Frühgeschichte menschlicher Sesshaftwerdung bereits einmal eine Kornkammer war, sollte von neuem aufblühen, vorzugsweise mit dem "weißen Gold" der Baumwolle.

Da das Gebiet nur dünn besiedelt war, träumten einige Strategen von deutschen Kolonien, anderen, realistischeren Zeitgenossen wie dem damaligen Deutsche-Bank-Chef Georg von Siemens ging es eher darum, unter der Oberhoheit des Osmanischen Reiches solche Bürger dort anzusiedeln, denen die Bank zutraute, eine produktive Landwirtschaft auf die Beine zu stellen. Wie der deutsche Historiker Hilmar Kaiser unlängst in einem Buchbeitrag aufdeckte, ließ von Siemens sogar an Mormonen im US-Staat Utah, die dort schikaniert wurden, schreiben und bot ihnen an, entlang der Bagdadbahn gutes Land zu erhalten, wo sie mit dem Wohlwollen des Sultans dann Baumwolle für den deutschen Markt anbauen könnten.

All diese Träume verschwanden im Strudel der Niederlage der deutsch-österreichisch-türkischen Allianz. Wie zum Hohn auf die deutschen Expansionspläne übernahmen nach 1918 die Briten die Bagdadbahn und bauten sie in ihrer "Kolonie" Irak dann zu Ende.

Opfer eines großen Modernisierungsschubs

Schon zuvor, 1917, war das deutsch-türkische Militärprojekt Bagdadbahn durch eine Sabotageaktion bereits fast beendet worden. Von Haydarpasa aus rollte der gesamte Nachschub an Munition zu den Fronten im Nahen Osten. Im Oktober 1917 gelang es britischen Saboteuren, die in Haydarpasa gelagerte Munition zu sprengen, der halbe Bahnhof flog in die Luft. Bis er wieder funktionstüchtig war, standen die osmanischen und deutschen Truppen im Irak, in Syrien und Palästina vor der Kapitulation.

Das heutige Ende von Haydarpasa hat nun nichts mehr mit kriegerischen Einwirkungen zu tun, der deutsch-türkische Kopfbahnhof wird das Opfer eines großen Modernisierungsschubs. Anstelle der Fähre zwischen dem europäischen Bahnhof Sirkeci und dem asiatischen Pendant Haydarpasa wird in spätestens zwei Jahren ein Tunnel auf dem Grund des Bosporus Europa und Asien verbinden. Durch den Tunnel wird zukünftig sowohl der Fern- wie auch der S- und U-Bahn-Verkehr geleitet. Der zukünftige Schienenstrang führt dann einige Kilometer an Haydarpasa vorbei, der Bahnhof wird nicht mehr gebraucht.

Dadurch entsteht nun im asiatischen Zentrum Istanbuls, in Kadiköy, ein Projekt, das ungefähr die zehnfache Dimension von Stuttgart 21 hat. Durch den Tunnel unter dem Bosporus wird rund um Haydarpasa ein riesiges Gelände frei, auf dem jetzt noch neben dem Bahnhofsgebäude und den Gleisanlagen große Silos und ein Containerhafen stehen, die mit dem Bahnhof verbunden waren. Nach den Plänen Ankaras und der Istanbuler Verwaltung wird sich hier ein Dorado für Immobilienentwickler und Baufirmen auftun.

Gigantisches Kreuzfahrtterminal

Wo jetzt noch Container verladen werden, entsteht ein gigantisches Kreuzfahrtterminal, denn die Anlegekapazität für Kreuzfahrtschiffe in Istanbul ist längst erschöpft. Dazu kommen Shoppingmalls, Kulturzentren, Vergnügungstempel, Bürobauten und Moscheen, mit anderen Worten alles, was der Konsument des 21. Jahrhunderts sich nur wünschen kann.

Aus dem als historisches Bauwerk geschützten Bahnhof selbst soll ein Museum werden. Allerdings nur teilweise. In dem größeren Teil wird ein Hotel mit angeschlossener Boutiquen-Mall untergebracht.

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4 Kommentare

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  • S
    Severim76

    @Sondermann

    Was sich fremdenfeindliche Deutsche nicht so alles ausdenken, um gegen türkische Mitbürger zu hetzen. Jetzt saugt man sich gar schon ein verkehrspolitisches Alibi aus den Fingern. Das ist wirklich bemerkenswert fadenscheinig. Ausgerechnet ein Deutscher muß so was vorbringen, wo die Deutschen selbst eines der Flugreise-freudigsten Völker sind.

  • MF
    Martin Freitag

    @Sondermann: Bevor Sie sich zu antitürkischen allgemeinpolitischen Schlussfolgerungen versteigen, sollten Sie vielleicht erst einmal den TAZ-Artikel selbst genauer lesen. Es heißt dort nämlich: "Durch den Tunnel wird zukünftig (...) der Fern- (...) Verkehr geleitet. Der zukünftige Schienenstrang führt dann einige Kilometer an Haydarpasa vorbei,(...)". Somit gibt es sehr wohl umfangreiche Investitionen staatlicherseits für die Modernisierung des Schienenverkehrs.

     

    "Jetzt folgt die Abwicklung (dto.) des anatolischen Bahnverkehrs". Was haben wir unter dieser Stilblüte zu verstehen? - Sie scheinen sich tatsächlich noch auf dem Informationsstand der 1990er Jahre zu befinden. Sonst dürfte Ihnen eigentlich nicht entgangen sein, dass momentan eine hochmoderne Schnellbahn-Neubaustrecke zwischen Istanbul und Ankara gebaut wird, auf einer teilweise vollkommen neuen Trasse über schwieriges Gebirgsterrain, mit unzähligen Tunneln und aufwendigen Brückenkonstruktionen. Infos dazu finden Sie z.B. auf der Website www.tcdd.gov.tr der Türkischen Staatsbahn. - Ja, Sie lesen richtig, hier gibt es noch eine Staatsbahn.

    Von solchen Verhältnissen können andere Staaten, die an die EU "herangelassen" wurden, nur träumen.

     

    Somit meine freundliche Bitte: Bevor Sie den empörten EU-Bürger spielen, lesen Sie sich bitte erstmal in die Materie ein. Vielen Dank.

  • MB
    Marian Bichler

    Ganz ganz herzlichen Dank für diesen Artikel! Und: Oh wie traurig. Ich habe zum Jahreswechsel 2009/2010 Istanbul besucht und diesen Bahnhof entdeckt. Der Zauber einer vergangenen Zeit, der über ihm hing, nahm mich sofort gefangen. Fasziniert fotografierte ich den Fahrplan mit den Abfahrtzeiten eines Zuges, der bis nach Teheran fahren sollte. Wenn er denn noch gefahren wäre... Den Vergleich mit Stuttgart 21 finde ich jedoch nicht ganz passend. Haydarpasa ist eher vergleichbar mit jenen wunderschönen Frankfurter Gründerzeithäusern, die man in den 1970ern in blinder Modernisierungswut abgerissen hat. h

  • S
    Sondermann

    Noch ein Grund, die Türkei nicht allzu nah an die EU heranzulassen: sie setzt offenbar einseitig auf Straßen- und Flugverkehr. Bereits in den 1990er Jahren wurde der Schienenverkehr im türkischen Thrakien (von der bulgarischen Grenze bis zum Istanbuler Bahnhof Sirketi) weitgehend eingestellt; stattdessen wurde die Autobahn nach Edirne ausgebaut, und Fernbusse brausen mit halsbrecherischem Tempo über sie. Jetzt folgt die Abwicklung des anatolischen Bahnverkehrs. Das ist ein ökologie-feindlicher Vekehrsstandard, den ich nicht bereit bin hinzunehmen, und den auch europäische Politiker nicht dulden sollten!