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Ist Ungarn die Zukunft Polens?

In Ungarn haben sich Regierung und Opposition geeinigt, am dreieckigen Tisch zu verhandeln  ■ G A S T K O M M E N T A R

Ist Ungarn die Zukunft Polens oder Polen die Zukunft Ungarns?“ fragte sich kürzlich der ungarische Ökonom Josef Brada. Die Nachricht, wonach zwischen den Vertretern verschiedener Gruppierungen der demokratischen Opposition und der Regierung in Budapest ein „runder“ beziehungsweise „dreieckiger“ Tisch vereinbart worden ist, um gemeinsam die Verfassungsreform und das Reglement des Mehrparteiensystems auszuarbeiten, erinnert an die polnische Erfahrung und deren Dilemma. Der Reformprozeß bedarf gesellschaftlich legitimierter Verhandlungspartner, mithin eines konsolidierten Reformflügels in der regierenden Partei. Die Wahlen in Polen haben indes gezeigt, daß die Wähler nicht willens waren, „die Kulisse zu stützen“ (Solidarnosc -Politiker Kuron) und den Reformern zu einer demokratischen Legitimation zu verhelfen. Indem sie abstimmten, rechneten sie ab.

In seinem jüngsten Interview hat es der ungarische Reformpolitiker Imre Pozsgay ausdrücklich abgelehnt, für die Wahlen eine Quotenregelung nach polnischem Muster zu übernehmen, die der Machtelite eine Galgenfrist einräumen würde. Er nähert sich damit der Position, die innerhalb der demokratischen Opposition Ungarns von den Freien Demokraten vertreten wird. Sie lehnen institutionalisierte Formen der Machtteilung als überflüssig und darüber hinaus auch als gefährlich ab. Im Gegensatz zu Polens Premier Rakowski, der sich weigert, „die Hypothese des Machtverlustes in Betracht zu ziehen“, räumt Pozsgay die Möglichkeit einer Wahlniederlage ein. Soviel Realitätssinn glaubt er sich leisten zu können, denn er kalkuliert, daß die Partei unter seiner - einer offen sozialdemokratischen Führung - für ein achtbares Wahlergebnis gut sein wird. Er weiß schließlich, daß er Bündnispartner finden wird: im nationalistischen und populistischen Lager.

Für die demokratische Opposition in beiden Ländern wäre es ungefähr das schlimmste, wenn sie jetzt die Regierung übernehmen müßte. Ihr außenpolitischer Handlungsspielraum wäre begrenzt, sie sähe sich antidemokratischen Verwaltungs und Sicherheitsapparaten gegenüber, und vor allem: sie wäre gezwungen, die volle Verantwortung für all die schmerzhaften Einschnitte in die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu übernehmen, die unweigerlich mit der weiteren Wirtschaftsreform verbunden sein werden.

Die Alternative wäre konstruktive Opposition, Kontrolle und die Durchsetzung eines tiefgreifenden staatlichen und gesellschaftlichen Demokratisierungsprogramms. Das Bürgerkomitte Solidanosc hat sich jetzt für diese Linie entschieden. Die Frage ist nur, ob eine erbitterte Bevölkerung ihr folgen wird. In Polen - wie in Ungarn.

Christian Semler

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