Ist Stabilität wichtiger als die Menschenrechte?

Vor allem einige Regierungen Asiens wehren sich gegen eine global gültige Definition der Menschenrechte. Sie halten innenpolitische Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung für wichtiger als individuelle Freiheiten  ■ Von Wolfgang S. Heinz

Vor dem Beginn der Wiener Konferenz haben sich erhebliche Meinungsunterschiede manifestiert, wie der Schutz und die Förderung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen in den nächsten Jahren weiterentwickelt werden können und sollen. Die Kontroverse wirkt oft irreführend, weil ihre Protagonisten „der Süden“, die „Länder“ und „Völker“ der Dritten Welt genannt werden. Tatsächlich ist es bisher im wesentlichen eine Debatte zwischen bestimmten Regierungen in Asien und im Westen. Einige private internationale und asiatische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben unterdessen auch Stellung bezogen.

Die Debatte wird nicht in erster Linie zwischen islamischen Staaten und dem Westen geführt. Die Gemeinschaft Südostasiatischer Staaten (Asean), vor allem Indonesien und die Volksrepublik China führen vielmehr die Front der Kritiker an. Ihre Vertreter behaupten, die Menschenrechte seien ein westliches Konzept und daher auf ihre Länder nicht anwendbar. Die Durchsetzung der Menschenrechte müsse in die Verantwortung der einzelnen Staaten fallen und sei keine Aufgabe der Völkergemeinschaft. Sie lehnen eine Bindung von Entwicklungshilfe und Handelsbeziehungen an die Durchsetzung der Menschenrechte, wie dies die Europäische Gemeinschaft und Deutschland seit 1991 angekündigt haben, entschieden ab.

Die Kritiker des universalen Anspruchs auf Menschenrechte behaupten, die Verwirklichung politischer und bürgerlicher Rechte müsse vorübergehend – es ist unklar, wie lange – für das von der Regierung vertretene Modell für wirtschaftliche Entwicklung und der hierfür notwendigen politischen Stabilität zurückgestellt werden.

In dem Abschlußkommunique einer regionalen Vorkonferenz der asiatisch-pazifischen Regierungen im Januar 1993 heißt es, die Entwicklungsnationen müßten zunächst auf eine allgemein gerechte und wirtschaftlich prosperierende Gesellschaft hinarbeiten, bevor die Rechte des Individuums berücksichtigt werden könnten. Eine Gruppe von Nationen (gemeint war der Westen), so hieß es auf der Konferenz, dürfe die Konferenz in Wien nicht dazu mißbrauchen, ihren Standard in der Menschenrechtdiskussion aufzuzwingen. Ein sogenanntes „universales Menschenrechtsbild“, wie es dem Westen vorschwebe, sei nicht zu verwirklichen. Auch sollte die Menschenrechtsdiskussion nicht an politisches Wohlverhalten, an Handel oder Entwicklungshilfe gebunden werden.

In seiner Eröffnungsrede erklärte der indonesische Präsident Suharto, die Entwicklungsnationen müßten zunächst auf eine allgemein gerechte und wirtschaftlich prosperierende Gesellschaft hinarbeiten. Die Interessen von Gesellschaft, Staat und Nation hätten Vorrang vor denen der einzelnen.

Auch der frühere Premierminister Singapurs, Lee Kuna Yew, betonte in einem Vortrag 1992 in Japan, daß die Völker aller Länder erst einmal wirtschaftliche Entwicklung bräuchten; dann könne Demokratie folgen. Die Schwäche der Demokratie sei die falsche Annahme, alle Menschen seien in gleicher Weise zu Beiträgen für das Gemeinwohl fähig.

Auf der Konferenz asiatischer Regierungsvertreter im März/ April 1993 erklärte der thailändische Premierminister Chuan Leekpai, zwar gäbe es nur einen Katalog fundamentaler Menschenrechte, die Durchsetzung dieser Rechte variiere aber mit dem sozio-ökonomischen, historischen und kulturellen Hintergrund eines Landes. Wie auch in Jakarta bekräftigte die Konferenz in der Abschlußerklärung das Gebot der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.

Bei dieser Erklärung stützen sich die asiatischen Regierungen auf den Art. 2 Abs. 7 der Satzung der Vereinten Nationen, der die Einmischung von Staaten in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten verbietet.

Eine solche Position entspricht heute nicht mehr der großen Mehrheit der Länder, die Schutz und Förderung der Menschenrechte als internationale Aufgabe ansehen. Sie entspricht auch nicht den vertraglichen Verpflichtungen der Kritiker. Sie haben Verpflichtungen unterschrieben und akzeptiert, wie die UN Charta und weitere UN-Erklärungen und -verträge, und erkären nun, sie wollten diese nicht oder nur beschränkt einhalten. Es geht ihnen offensichtlich darum, sich der ohnehin schwachen Überwachung durch die Vereinten Nationen gänzlich zu entziehen.

Umstritten sind schließlich die Instrumente der Menschenrechtspolitik, wenn sie über Diplomatie und öffentliche Kritik hinausgehen.

Die Asean hat 1991 und 1992 die neue Politik der Europäischen Gemeinschaft, Entwicklungshilfe und Handelsbeziehungen an Menschenrechtskriterien zu binden, abgelehnt. Es liegt auf der Hand, daß die menschenrechtliche Konditionierung in Asien und auch in anderen Regionen kritisiert wird. Ein politischer Dialog zwischen Regierungen, NGOs und Wissenschaftlern ist zu diesem Thema notwendig, verweist es doch auf politische Druckmöglichkeiten des Westens auf Länder des Südens. Dies führt zu der überfälligen Frage nach der Rolle der nördlichen Länder.

Der malaysische Menschenrechtaktivist Chandra Muzaffar verfaßte eine unterdessen von 202 asiatischen Nichtregierungsorganisationen unterschriebene Erklärung, in der es heißt: „Kollektive Rechte haben in Asien jedoch noch eine andere Bedeutung. Als Teil des internationelen Systems sehen sich die asiatischen Staaten angesichts himmelschreiender globaler Ungerechtigkeiten oft dazu gezwungen, die kollektiven Rechte ihrer Bürger zu artikulieren. Da das internationale System einer privilegierten Minderheit des Nordens gestattet, den Rest der Menschheit zu kontrollieren und zu beherrschen, beschränkt der Norden die Rechte der Menschen im Süden, von denen ein Großteil in Asien lebt.“ Die Erklärung fordert die NGOs des Nordens dazu auf, das öffentliche Bewußtsein im Norden darüber zu schärfen, wie Vorherrschaft und Kontrolle des Nordens über das internationale System die grundlegenden Menschenrechte der Asiaten einschränken. Hier läßt sich die unabhängige Position der asiatischen Menschenrechtsorganisationen erkennen. Sie widersprechen ihren Regierungen in der Frage der Universalität und fordern die Einhaltung vereinbarter Menschenrechte. Gleichzeitig üben sie aber heftige Kritik an der Wirtschaftspolitik des Westens und dessen Kontrolle der internationalen Finanzsituationen und der Vereinten Nationen im Sicherheitsrat.

Damit wird der Kern der Kontroverse deutlich: Es geht zum einen um die Durchsetzung eines als positiv und erfolgreich empfundenen Entwicklungsmodells, in dem die Menschenrechte auf dem Entwicklungsweg erst spät, wenn überhaupt, Bedeutung erlangen. Dies aber hat zunächst einmal wenig mit Kulturunterschieden zu tun, viel eher mit der Entscheidung von kleinen Eliten über den richtigen Entwicklungsweg für ihr Land. Allerdings wirken konfuzianische Einflüsse offensichtlich auf das Entwicklungs- und Gesellschaftsmodell ein, das vor allem Pflichten und nicht individuelle Ansprüche gegenüber dem Staat hervorhebt.

Der zweite Konfliktpunkt betrifft das Spannungsverhältnis zwischen staatlicher Souveränität und Einflußversuchen der Vereinten Nationen. Die Themen Menschenrechte und Umwelt werden als die beiden Einfalltore empfunden, durch die der Westen versucht, seine Interessen durchzusetzen. Zwar sind die Staaten Südostasiens und die VR China nicht von einer direkten militärischen Intervention bedroht wie einige afrikanische Staaten oder der Irak. Aber man möchte doch deutlich und zu einem frühen Zeitpunkt die Grenzmarken setzen.

Zudem geht es hier auch einmal mehr um eine symbolische Auseinandersetzung zwischen westlichen Regierungen und den Eliten der fortgeschrittensten Länder des Südens. Es sind echte Differenzen, und hinter ihnen steht ein beträchtliches Maß an nationalistischem Stolz und Selbsbewußtsein der Eliten in Asien.

Wie immer die Kompromisse in Wien aussehen werden: Die Debatte wird weitergehen und sie könnte zu einer deutlichen Blockbildung zwischen Industrieländern und einem Teil Asiens führen. Überfällige Kurskorrekturen des Westens in der Entwicklungs- und Welthandelspolitik und der langsame, widersprüchliche Demokratisierungsprozeß in den asiatischen Ländern werden darüber entscheiden, ob es zu einer fruchtbaren Kontroverse wird.