Israelischer Professor über Hamas: "Hamas setzt auf kontrollierte Gewalt"
Der Tel Aviver Professor Schaul Mischal plädiert für einen realistischen Umgang mit der islamischen Hamas. Einen dauerhaften Boykott der Organisation hält er für fragwürdig.
taz: Herr Mischal, Sie haben in Ihrem vor acht Jahren veröffentlichten Buch zur Koexistenz mit der Hamas aufgerufen. Glauben Sie, dass so etwas heute noch möglich ist?
Schaul Mischal: Mehr denn je, denn die Hamas entwickelt zunehmend politische Mündigkeit. Weil sie die Kontrolle im Gazastreifen hat, muss sie Verantwortung übernehmen. Im Moment verfolgt sie eine zweigleisige Politik, die zum einen auf Koexistenz mit Israel abzielt, ohne Israel auf der anderen Seite anzuerkennen. Darum genau geht es bei der Tahadija (arabisch für Waffenruhe). Man verzichtet zwar nicht auf seinen Traum von der Zerstörung Israels und vom muslimischen Reich in ganz Palästina, aber dieser Traum rückt doch immer weiter weg. Die Realität zwingt zu einer Rationalisierung, deshalb funktioniert die Tahadija.
Oder auch nicht. Kann die Hamas dem Raketenbeschuss Israels kein Ende machen oder will sie das nicht?
Die mit Israel erreichte Verständigung ist sehr wacklig. Die Hamas setzt auf eine kontrollierte Gewalt. Sie erlaubt den extremeren Kämpfern, zu schießen, achtet aber darauf, dass die Angriffe nicht allzu heftig ausfallen. Das tut sie, um die eigene Opposition zu neutralisieren. Dazu kommt, dass es bei der Hamas dasselbe Phänomen gibt wie bei den jüdischen Siedlern. Dort ist es die sogenannte Hügeljugend, junge Leute, die an der Grenze zur Anarchie eine noch radikalere Haltung als ihre Eltern vertreten. Genau das passiert bei der Hamas. Während die ältere Generation noch eher das Dilemma lebt zwischen Vision und Realität, setzen die Jungen auf den Kampf.
Umgekehrt lässt Israel mit der Blockade nicht locker. Glauben Sie, dass die Regierung in Jerusalem sich von der internationalen Kritik beeindrucken lässt?
Israel stellt sich jeden Tag neu auf die aktuelle Situation ein. Früher oder später muss die Regierung sich die Frage stellen, ob sie es sich leisten kann, die Hamas zu ignorieren oder gar zu neutralisieren. Oder ist die Hamas eine Tatsache, die langfristig in die Planung miteinbezogen werden sollte? Dazu kommt, dass Hamas nicht gleich Hamas ist. Wir haben die Hamas im Gazastreifen, die Hamas im Exil und die Hamas im Westjordanland, von der wir nicht genau wissen, welche Position sie bezieht, sollte sie dort wieder an Einfluss gewinnen.
In der UN wird in Verbindung mit dem Gaza-Embargo der Ton schärfer. Kann die israelische Regierung die Kritik weiter ignorieren.
Ich betrachte die UN als Symptom dafür, dass der Konflikt längst kein bilateraler mehr ist. Das Palästinenserproblem wird immer stärker zu einer regionalen oder gar internationalen Angelegenheit. Der Hamas ist es gelungen, die Palästinenserfrage auf die internationale Agenda zu setzen.
Warum halten Sie das für eine Errungenschaft?
Weil Israel die Trümpfe verliert und nicht mehr allein agieren kann. Alle Entscheidungen müssen über alle möglichen Vermittler geregelt werden, wobei Israel immer weniger wichtig wird.
Der UN-Berichterstatter Richard Falk hat davor gewarnt, dass Israels Politik im Gazastreifen einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen könnte. Was halten Sie davon?
Dieser Ton spiegelt das Gefühl der Vertreter in der Staatengemeinschaft wider. Möglich ist, dass die USA und Europa heute anders denken als vor zwei Jahren. Ich vermute, dass die laute Kritik Teil einer Neubewertung ihrer Politik gegenüber der Hamas ist. Denkbar ist, dass die westlichen Staaten zu der Ansicht gelangen, die Hamas könnte am Ende doch ein politischer Partner werden, mit dem ein Dialog sinnvoll ist.
Würden Sie sagen, dass die Sanktionen und die Bedingungen, die Israel und der Westen gegenüber der Hamas formulierten, ein Fehler waren?
Der Fehler ist, dass wir, die israelische Seite, niemals zur rechten Zeit mit den Palästinensern geredet haben, weder mit der PLO noch mit der Hamas.
Aber auch die Hamas lehnt doch Kontakt zu Israel weitestgehend ab.
Ich bin sicher, dass es unter bestimmten Bedingungen auch dort jemanden gibt, mit dem man einen Dialog aufnehmen kann.
INTERVIEW: SUSANNE KNAUL
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