piwik no script img

Israel fürchtet „operative Schritte“ der UNO

Der UN-Sicherheitsrat hat die Entscheidung zum Massaker vom Jerusalemer Tempelberg erneut verschoben/ Ausgangssperren und massiver Einsatz von Sicherheitskräften sorgen für „Ruhe“ im Heiligen Land/ Unmut bei Polizeiführung über Schuldzuweisung  ■ Aus Tel Aviv Amos Wollin

Der UN-Sicherheitsrat hat seine Beratungen über eine Stellungnahme zu dem Blutbad am Jerusalemer Tempelberg verschoben. Von den USA und vom Jemen waren dazu zwei unterschiedliche Resolutionsentwürfe eingebracht worden. Dem US-Entwurf zufolge sollte das Massaker verurteilt und die Entsendung einer Untersuchungsdelegation durch UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar nach Israel angeregt werden. Genau darin unterscheidet sich der jemenitische Vorschlag. Er besteht auf der Entsendung einer Untersuchungskommission durch den Sicherheitsrat. Dies lehnt Israel strikt ab. Auch die USA hatten zunächst erklärt, im Falle einer schärferen Resolution ihr Veto einzulegen.

Die bedrängte israelische Regierung befürchtet, daß die vom Jemen vorgeschlagene Kommission des Sicherheitsrates „operative Schritte“ wie die Entsendung von internationalen Beobachtern oder Schutzeinheiten in die besetzten Gebiete fordern könnte. Ein Ansinnen, das von palästinensischer Seite bereits seit langem an die UNO herangetragen wird. Die Schamir-Regierung ist allenfalls bereit, eine „ungefährliche“ Besuchsmission von Sendboten des UN-Generalssekretärs — wie sie von den USA angeregt wurde — hinzunehmen. Denn nach Ansicht hoher Regierungsbeamter würde durch eine solche Maßnahme „der Status quo Jerusalems nicht gefährdet“.

Israelische Regierungskreise müssen sich nun der bitteren Erkenntnis stellen, daß der blutige Polizeieinsatz am Tempelberg, bei dem über 20 Palästinenser erschossen wurden, schweren innen- und außenpolitischen Flurschaden angerichtet hat. Nun gilt es den Schaden zu begrenzen. Die ausgeweitete und verlängerte Ausgangssperre für die besetzten Gebiete und eine massive Polizeipräsenz in allen arabischen Dörfern und Städten Israels dienen dem Ziel, jede weitere Eskalation zu verhindern und „Zeichen der Beruhigung“ vermelden zu können.

Jeder neue palästinesische Tote und jede weitere Verschärfung der Lage in Israel und den besetzten Gebieten schadet den Regierungsinteressen, wird doch dadurch die PLO wieder ins Licht der internationalen Öffentlichkeit gerückt. Besonders sensibel reagiert man in Jerusalem auf jede Art von Verbindung zwischen der irakischen Besatzung von Kuwait und den israelisch besetzten Gebieten. Zu Saddam Husseins Reaktion auf das Blutbad vom Tempelberg erklärte Schamir: „Der irakische Herrscher hegt die Absicht, die Konfrontation zwischen dem Irak und der Welt in eine Auseinandersetzung des arabischen Lagers gegen Israel umzumünzen.“

Auch israelische Kommentatoren stießen ins gleiche Horn. Saddams Vorhaben sei es, die Vorfälle am Tempelberg zur Festigung der eigenen Stellung bei Arabern und Moslems auszuschlachten. Dabei wolle er den Anschein erwecken, daß die arabischen Führer, die am US-dominierten Truppenaufmarsch gegen ihn teilnähmen, die palästinensische, die arabische und die islamische Sache verraten würden. Schließlich sei Saddam auch an einer Ablenkung der Weltöffentlichkeit vom Golf hin zum palästinensisch-israelischen Konflikt gelegen. Militärexperten ergänzten, die neuerliche Raketendrohung aus Bagdad offenbare keinen waffentechnologischen Fortschritt des Irak. Auch bestehe derzeit kein Anlaß, die auf zwei Monate terminierte Gasmaskenverteilung an die Israelis zu forcieren.

Ärger und Unmut herrscht gegenwärtig bei vielen hohen Offizieren der israelischen Polizei- und Sicherheitskräfte darüber, daß ihnen die Schuld für den „Overkill“ vom Tempelberg und die damit zusammenhängenden, politischen Dissonanzen zugewiesen wird. Schon am Dienstag gab der Polizeiminister Ronnie Milo die Anweisung aus, die polizeiinterne Kommission, die den Einsatz am Tempelberg überprüfen sollte, abzuberufen. Im Einverständnis mit Schamir soll jetzt eine „neutrale Kommission“ eingesetzt werden, die nicht unter polizeilicher Weisungsbefugnis steht. Das ursprüngliche Gremium war vom Polizeipräsidenten Jerusalems, Jakov Terner, persönlich zusammengestellt worden. Die nunmehrige Neubildung gilt als wichtiges Indiz dafür, daß die Karriere des erst kürzlich zum Präsidenten ernannten Terner ein durchaus plötzliches Ende finden könnte.

Der Chefredakteur der der linksliberalen Mapam nahestehenden Zeitung 'Alhamishmar‘, Zwi Timor, stellte dagegen sowohl das Recht der Regierung als auch das der Polizeibehörden auf Einsetzung einer Untersuchungskommission energisch in Abrede. „Die Regierung und der Polizeiminister“, so Timor, „müssen selbst Gegenstand der Untersuchung sein. Erst muß geprüft werden, wie und wo die Regierung politisch versagt hat. Und dann, wer unmittelbar für die tragischen Ereignisse verantwortlich ist.“

Wut und Zorn herrscht unter den Palästinensern der besetzten Gebiete. Aber auch unter den arabischen Staatsbürgern Israels macht sich zunehmend Verbitterung breit. In etlichen israelischen Städten und Dörfern mit mehrheitlich arabischer Bevölkerung kam es zu bürgerkriegsähnlichen Szenen, wie man sie sonst nur aus den besetzten Gebieten kennt. Vor allem die Verhaftung des gemäßigten Palästinenserführers Faisal Husseini heizte die Stimmung noch zusätzlich an.

Als am Dienstag der Tempelberg von starken Polizeikräften abgeriegelt, der Mufti von Jerusalem durch eine Gasgranate verletzt ins Krankenhaus eingeliefert und sein Stellvertreter verhaftet wurde, ging unter der palästinensischen Bevölkerung Angst um, die explosive Lage könnte jeden Moment zu einem neuen Blutbad führen. Viele Palästinenser leben nun in dem Gefühl, daß es jeden von ihnen zu jedem Zeitpunkt genauso treffen kann wie die Opfer vom Tempelberg. „Wie kann man so leben?“, war allerorten zu hören. Am Abend war der Zugang zum Felsendom und zur Al-Aksa-Moschee auf dem Berg jedoch wieder frei.

Gestern beantragte die Polizei die Verlängerung der Untersuchungshaft für den stellvertretenden Mufti sowie den Palästinenserführer Husseini. Husseini wird vorgeworfen, jugendliche Steinewerfer aufgewiegelt zu haben. Sowohl vielen Israelis als auch Palästinensern scheint diese Anschuldigung völlig absurd. „Ein Mann seines Kalibers und seiner politischen Konzeption ist kein Organisator von Steinwerfern“, lautete das einhellige Urteil.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen