:
Irre im Revier ■ Von Thomas Gsella
Am Anfang warf mich eine bleiche Mutter ins Gras, und am Rande dieses Grases floss die Ruhr, und so war es. 34 Jahre meines Lebens verbrachte ich in jenem vom Nachweltkrieg geborenen Häuserhaufen, den arbeitskräftezählende Ratten und ihre dümmeren Kellner Ruhrgebiet nennen, und wuchs hinein in eine architektonische Hölle, mit der das Ende der Menschheit sich ein Denkmal setzte. Und das Wunder geschah: Ich gedieh; eine Blüte inmitten des Staubs der Verheerung. Dann zog ich fort. Sieben Jahre war ich nicht hier, und seit ich zurückkam vor Wochen, aus Liebe, mich niederließ dort, wo die bleiche Mutter mich ins Gras geworfen, in Essen, die sich nun Einkaufsstadt heißt und also lügt, über Stil zu verfügen, und die Erkenntnis, dass man leben nicht kann in ihr, stoße ich stündlich auf Beweise dafür, dass mein Fortsein dem Ruhrgebiet nicht gutgetan hat.
Wahrlich: Als hätte der hiesige Mob auf meinen Weggang gehofft wie der feige Schakal auf die Sattheit des Löwen, krochen sie am Tag meines Abschieds hervor, hungrig seit je und laut mittlerweile. Sei's die von Journaille und gleichplanen Lesermillionen gefeierte „Internationale Bauausstellung Emscherpark (IBA)“, die mit Vorliebe leere Fabriken lackiert, sie mit ProjektArtQuatsch ausstopft und so, als touristischen Funpark, arbeitslosen Budenstehern offeriert; seien es die „Wir in NRW“- und Revierplakate eines Kommunalverbands Ruhr, obszöne Insbildsetzungen billigsten Standortgeschreis; seien es regionalstolzblöde Szene-Slogans wie „Der Pott kocht“ oder „Kommt aus de Pötte“: Von überall weht heute der Gestank von Heimatliebe.
Und apropos Budensteher: „Anne Bude, da geht's mir gut!“ heißt eine Fotoausstellung, wohl gleichfalls in einer IBA-bunten Halle präsentiert von einem, der im vollsten Gegensatz zu den abgelichteten Säufern ein Zuhause hat und ein warmes Morgen. Aber schick ist es halt geworden in Kreisen, die sich einmal kritisch wähnten, den betrogenen Hinzes und Kunzes so aftertief ins Gebaren und Maul zu kriechen, bis man deren grundfalsches Dasein für regionale Gewieftheit hält, ja für den Ausdruck einer „Ruhridentität“, ähh! Je haargenauer Menschen wissen, dass sie nichts zusammenhält, desto dringender sollen ein paar hergelaufene Straßen oder Viertel eine Seele haben.
Und erst die gleichfaule Ruhrcomedy: Leute, die es besser wussten, als sie nicht verdienen wollten, binden sich einen Knebel ums Hirn und reüssieren mit Affentheater: ihrem dummgehaltnen Volk zeigend, dass es damit, wie es stammelt, schon alles seine Wahrheit und Schönheit und Herz-am-rechten-Fleck-Idylle hat. Kaum aber kommt der polnische Romancier Andrej Szczpiorski mal ins „Ruhrgebiet“ mit seiner alten Handelsstraße (!) Hellweg, tut's das Revier kein bisschen unter sowas: „Seine Lesung gehört zu einem Projekt, das unter dem Motto ,Stimmengewirr-Literatur-Stop Hellweg‘ das Bewusstsein für die traditionelle Sprach- und Kulturvielfalt der Region schürfen soll.“
Eine naive Einfalt gibt es laut Schiller. Wo Irre von Vielfalt reden, wo sie ihre höchsteigene Macke gegen klingende Münze verscherbeln, da möge ihnen der Himmel aber doch mal auf den Kopf fallen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen