piwik no script img

Ironiefreie Unterhaltung

■ Das DDR-Relikt "Außenseiter-Spitzenreiter" geht wohlwollender Denunziation nach (21.15, MDR)

„Es lohnt sich doch kaum noch zuzusehen“, sagt der Chemnitzer Rentner Kessler in das Mikrophon des nicht minder betagten MDR- Reporters Hans-Joachim Wolfram auf die Frage, warum er denn keinen Fernseher besäße. Und „Wolle“, seit gut einem Vierteljahrhundert Kopf und Frontmann des TV-Unterhaltungsmagazins „Außenseiter–Spitzenreiter“, quittiert diese vernichtende Antwort mit einem irgendwie an den späten Breschnew erinnernden Stoizismus: Er lächelt und geht zum nächsten Programmpunkt über.

„Außenseiter–Spitzenreiter“ ist ein Ostprodukt und trägt den Untertitel „Kundendienst für Neugierige“. Formal ähnelt die Sendung jenen Waschmittelwerbespots, in denen eine Frau mit Brille bundesdeutsche Reihenhäuser stürmt und scheinbar überraschte Alltagsmenschen mit geladener Kamera und zum Zwecke der Profitmaximierung zu positiven Stellungnahmen über ein weißes Pulver nötigt. Denn auch bei dem inzwischen auf der regionalen Programmschiene des Mitteldeutschen Rundfunks rollenden Unterhaltungsmagazin aus der frühen Honecker-Ära kommt das Fernsehen leibhaftig in die Wohnstube.

Anlaß sind zumeist Briefe von Nachbarn, Bekannten oder Verwandten, in denen sie der Redaktion mitteilen, daß Onkel, Oma, Herr oder Frau Soundso diesem oder jenem merkwürdigen Hobby nachgehen, daß sie einen Kanarienvogel haben, der das Deutschlandlied trommeln kann, oder daß in ihrem alten Trabant seit dem Mauerfall ein Maulwurf überwintert. So alarmiert steigen dann Hans-Joachim Wolfram und seine Assistentin, die ehemalige DDR- Eiskunstlaufweltmeisterin Christine Trettin-Errat, ins Auto, um sich vor Ort, also bei Meier, Müller oder Seebacher-Barzel von der Richtigkeit der wohlwollenden Denunziationsschreiben zu überzeugen. Das alles geschieht ohne Eifer, ohne Häme und ohne jeden Anflug von Ironie.

Das ist TV von der affirmativsten Sorte, und darin liegt wohl auch der Grund für den ungebrochenen Erfolg dieser an sich gruseligen Sendung. Freilich, wer seinen Fernseher hin und wieder nutzt, um forschend und soziologisch interessiert in das wahre Antlitz der ihn beherbergenden Nation zu blicken, wird hier reich belohnt. Das war auch schon zu DDR-Zeiten so, was der Sendung damals einen höchst subversiven Charakter verlieh. Redeten doch die stolzen Sittichzüchter selbst vor laufender VEB-Kamera oft genug, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Und wenn nicht, dann war aber zumindest im Hintergrund eine ansehnliche Bierbüchsensammlung erkennbar, die unzensiert und hübsch auf der Schrankwand drapiert den stummen Schrei dieses gerade interviewten Volksmassenteils nach Freiheit symbolisieren konnte.

Zugegeben, diese ebenso hinter- wie untergründige Dramatik besitzt „Außenseiter–Spitzenreiter“ seit seiner vereinigungsbedingten MDR-Anbindung nicht mehr. Aber die Abgründe, die sich in unseren Wohnstuben auftun, sind deshalb nicht flacher geworden. So sehen wir auf unserem Fernseher ein armes, verängstigtes Würstchen von einem Münsteraner Theologiestudenten, der nach gutem Zureden schließlich bereit ist, seinen „Mund mit Hilfe der Zunge und der Lippen in zwei Hohlräume zu teilen“, um uns sodann „zweistimmig“ (!) etwas vorzupfeifen. Und weil es Wolle so gut gefällt, stellt sich dieser christlich- musikalische Jungmann auch noch vor den Altar seiner Stammkirche, um uns eine Zugabe zu pfeifen. Wir sehen sein Gesicht in Großaufnahme und sehen, wie es, ob der Anstrengung, die dieses absonderliche Lautgeben seinem Besitzer abverlangt, ins Gotteslästerliche gleitet. Das sind Bilder, die man nur schwer wieder loswird. André Meier

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen