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Irland in der Rezession"Täglich macht ein Pub dicht"

Die Iren stimmen zum zweiten Mal über den EU-Vertrag ab. Doch in der Provinz interessiert es niemanden. Die Menschen beschäftigt viel mehr der rapide Absturz ihrer Wirtschaft.

Wahlvorbereitung auf dem Land. Irland, dem teuersten Land in der Eurozone, gehen die Touristen aus: In diesem Sommer kamen 15 Prozent weniger. Bild: reuters

DUBLIN taz | Rechts der Atlantik, links der Burren. Auf den ersten Blick sieht das Gebiet in der Grafschaft Clare an der irischen Westküste wie eine Mondlandschaft aus: graue Steinhügel und helle Kalksteinplatten, so weit das Auge reicht. In einer scharfen Kurve steht am Straßenrand ein großes Blechschild, auf dem ein Wasserversorgungsprojekt für die Ortschaft Lisdoonvarna angekündigt wird. Darunter, in Englisch und Irisch, wird der Europäischen Union für die Finanzierung gedankt. Jemand hat mit schwarzer Farbe auf weißem Grund darüber geschrieben: "Lissabon 2: Dieselbe Frage, dieselbe Antwort."

Voriges Jahr, beim ersten Referendum über den EU-Reformvertrag von Lissabon, haben die Iren Nein gesagt. Sie waren die Einzigen, die darüber abstimmen durften, weil es ihre Verfassung vorschreibt. Am Freitag müssen sie erneut an die Wahlurne.

"Diesmal werden sie den Vertrag absegnen", glaubt Pat McNamara, ein kräftiger 48-Jähriger mit dichten schwarzen Haaren. Er ist Bauer in Fanore, einem langgezogenen Dorf an der Atlantikküste. "Die Regierung versucht, die Ablehnung des Lissabon-Vertrags mit der tiefsten Rezession seit 40 Jahren in Verbindung zu bringen. Das scheint zu funktionieren, die Ja-Seite liegt vorne. Die Leute glauben, wenn wir den Vertrag annehmen, geht es schlagartig bergauf."

McNamara besitzt 17 Kühe und einen Stier. Die Kälber zieht er ein Jahr lang auf, dann verkauft er sie. "Ich bekomme 600 bis 700 Euro pro Tier", sagt er. "Davon kann man kaum leben, denn die Futterkosten und Impfungen verschlingen einen Großteil davon. Wir Teilzeitbauern sind besonders stark betroffen von der Rezession."

In Irland leben 40 Prozent der Bevölkerung auf dem Land, mehr als in anderen EU-Ländern. Doch die ländlichen Gebiete sind benachteiligt, die Schere ist während des Wirtschaftsbooms der vergangenen 15 Jahre weiter aufgegangen. In der Hauptstadt Dublin liegt das durchschnittliche Einkommen 12 Prozent über dem Landesdurchschnitt, auf dem Land liegt es 8 bis 10 Prozent darunter.

"Und es wird immer schlimmer", sagt McNamara. "Der Staat steht vor dem Bankrott und streicht reihenweise Zuschüsse - für die Aufforstung, die Beseitigung von Agrarabfällen, die Verbesserung der Kälberproduktion. Vor allem die Kürzungen des Umweltprogramms, das eine umweltfreundliche landwirtschaftliche Produktion garantieren sollte, macht nicht nur die Errungenschaften zunichte, sondern bedeutet eine Einkommenskürzung von 40 bis 50 Prozent. Wen interessiert da noch der Lissabon-Vertrag? Er wird an den Kürzungen nichts ändern."

Noch vor 15 Jahren hat die Landwirtschaft 54 Prozent der Lebenshaltungskosten einer Bauernfamilie gedeckt, heute sind es nur noch 34 Prozent. Deshalb müssen die meisten Bauern oder ihre Ehefrauen eine Arbeit außerhalb des Hofes annehmen, um zu überleben. "Die Bauern arbeiten vor allem in der Nahrungsmittelverarbeitung oder auf dem Bau", heißt es in einem Bericht des Dubliner Trinity College. "Das sind die Bereiche, die am stärksten von der Rezession betroffen sind."

Pats Frau Gill Gregory betreibt seit zehn Jahren die "Tea Junction", ein kleines Café in Ballyvaughan. Der Raum ist recht klein, außer der Theke passen noch fünf Resopaltische hinein. Bei schönem Wetter stellt sie zwei Tischchen vor die Tür. Jetzt, um drei Uhr nachmittags, ist der Laden leer. Das sei inzwischen normal, sagt sie. Deshalb gibt sie das Café Ende Oktober auf.

"Seit 2006 ging es nur noch bergab", sagt die 52-Jährige. "Die Leute geben immer weniger Geld aus. Neulich kamen vier US-amerikanische Touristen und haben sich zusammen einen Teller Suppe geteilt, drei Engländer bestellten ein kleines Kännchen Tee." In vielen Läden mussten sie sogar die Kostproben abschaffen, erzählt Gregory. "Eine Käserei hatte stets einen Teller mit Käsestückchen zum Probieren auf dem Tresen. Die Leute haben sich das Zeug eingepackt und mit nach Hause genommen, ohne etwas zu kaufen. Auf diese Art gingen zwei Kilo Käse in der Woche weg."

Dass die Regierung den Aufschwung verspricht, wenn der Lissabon-Vertrag abgesegnet wird, hält sie für Propaganda: "Woher soll der Aufschwung denn kommen? Die Gegend lebt vom Tourismus. Aber die Touristen kommen nicht mehr." Dabei gehört der Burren und seine Küste zu dem Schönsten, was die Grüne Insel zu bieten hat. Der erste Blick auf die Steinlandschaft täuscht nämlich: In dem tausend Quadratkilometer großen Gebiet wachsen Pflanzen aus dem Mittelmeerraum, aus den Alpen und der Arktis einträchtig nebeneinander. Ein Phänomen sind die Senken, die im Winter von unterirdischen Quellen überflutet werden und im Sommer austrocknen.

Doch in diesem Sommer kamen rund 15 Prozent weniger ausländische Gäste auf die Insel als im vorigen Jahr. Vor allem die Briten und US-Amerikaner bleiben fern, weil sie sich einen Irland-Urlaub aufgrund des schlechten Wechselkurses von Pfund und Dollar nicht leisten können. Irland ist ein teures Land, das teuerste in der Eurozone.

"Selbst die Schweizer jammern über die Preise", sagt Gregory. "Das sagt doch alles." Rund 300.000 Menschen leben in Irland vom Tourismus, er bringt dem Land 6 Milliarden Euro im Jahr ein. 2007 überschritt die Zahl der Besucher zum ersten Mal die Acht-Millionen-Marke. Dann kam der Einbruch. Voriges Jahr sind 25.000 Jobs in der Tourismusindustrie verloren gegangen, schätzt Shaun Quinn von der irischen Fremdenverkehrszentrale.

Keine Bauarbeiter

"Mich trifft die Rezession doppelt", sagt Gregory. "Im Sommer kam ich wegen der Touristen mit meinem Café über die Runden, im Winter wegen der Bauarbeiter. Sie kamen in ihren Pausen sogar aus den Nachbarorten, oft nicht nur zum zweiten Frühstück, sondern auch zum Lunch. Heute kommt keiner mehr. Es gibt keine Bauarbeiter mehr."

In Irland wurden in manchen Boomjahren 90.000 neue Häuser gebaut. Die Bauindustrie steuerte 2007 ein Viertel des Bruttoinlandsproduktes bei, sie beschäftigte mehr als zehn Prozent aller Erwerbstätigen. Seitdem ist sie fast komplett zusammengebrochen, und mit ihr die Hauspreise.

"Viele glaubten, dass die Wirtschaft immer weiter wachsen würde, indem wir uns gegenseitig Häuser verkaufen", sagt Pat McNamara. In Irland stiegen die Hauspreise binnen acht Jahren um 300 Prozent, obwohl es ein Überangebot gab. Nach Schätzungen der Regierung stehen fast 300.000 Häuser leer. Die Zahl der Wiederinbesitznahmen durch Banken hat sich 2008 gegenüber 2007 verdoppelt, weil die Leute die Hypotheken nicht mehr bezahlen können.

Täglich verlieren mehr als 300 Menschen ihren Job. In Ennis, der Hauptstadt der Grafschaft Clare, aus der Muhammad Alis Urgroßvater in die USA auswanderte, wurde vor kurzem ein McDonalds eröffnet. Geschäftsführer Kieran McDermott sagt, er habe Hunderte von Bewerbungen bekommen, darunter erstaunlich viele Bankangestellte, Buchhalter und Architekten. "Das Schild mit den Jobangeboten musste ich nach einem Tag wieder abnehmen", sagt er.

Die Rezession hat eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, deren Folgen vor allem auf dem Land zu spüren sind. "Täglich macht eine Kneipe in Irland dicht", sagt McNamara. "Aber die Pubs sind ja nicht nur zum Trinken da, sondern sie sind gerade auf dem Land wichtig für den sozialen Zusammenhalt."

Eine Folge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs ist der steigende Heroinkonsum. Auf dem Land hat sich die Zahl der Heroinabhängigen in diesem Jahr vervierfacht. "Viele fliehen wegen Obdachlosigkeit und Hoffnungslosigkeit in die Drogen", sagt Tony Geoghegan von der Beratungsstelle für Obdachlose und Drogensüchtige. "Während der Wirtschaftskrise der Achtzigerjahre wurden Dublins Arbeiterviertel mit Heroin überschwemmt, jetzt sind es die Dörfer und Kleinstädte."

Schlimmer als in den 80ern

Vieles erinnert an die Achtzigerjahre, als Irland das Armenhaus Europas war. Doch es sei diesmal schlimmer, meint der Bezirksverordnete Shane McEntee: "Damals steckte der Staat bis zum Hals in Schulden. Heute ist auch die Bevölkerung stark verschuldet." Und diesmal gibt es nicht das Ventil der Auswanderung, das Irland jahrhundertelang vor dem Zusammenbruch bewahrt hat.

Die jüngere Generation könne sich diese Zeiten kaum vorstellen, meint McNamara. "Sie sind mit dem Boom aufgewachsen und glaubten, es werde so weitergehen", sagt er. "Das Einzige, was jetzt noch boomt, ist der Markt für Gemüsesamen. Wo früher Blumen wuchsen, bauen die Menschen jetzt Kartoffeln, Mohrrüben, Zwiebeln und Kohlköpfe an. Und sie kaufen in Billigläden wie Aldi und Lidl ein - auch Leute, die vor einem Jahr noch die Nase darüber gerümpft haben."

Die Rezession sei das Thema, über das alle sprechen, nicht der Vertrag von Lissabon, denn der werde daran nichts ändern, sagt seine Frau Gill Gregory: "Ob der Vertrag angenommen oder abgelehnt wird, spielt keine Rolle. Für Irland nicht und für Europa auch nicht."

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5 Kommentare

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  • I
    Ire

    die Pubs haben größtenteils übrigens wegen de, Rauchverbot wirtschaftliche Probleme...

  • F
    Freund

    1999 gab es den Versuch einen Vertrag mit gleichem Inhalt wie den des Lissabonvertrages auf Europaebene durchzusetzen. Dies geschah zuerst heimlich, ohne ein Mitwissen der Öffenlichkeit. Der Vertrag trug den Namen MAI. Multinationales Abkommen für Investitionen. Als die ersten Lücken entstanden und Information nach außen sickerte, forschte man schließlich nach. Dabei fand man heraus, dass diesen Vertrag Multikonzerne gemeinsam mit der Politik im Geheimen verfassten und auch im Geheimen ratifizieren wollten. Über den Inhalt dieses Vertrages wurde sogar ein Buch geschrieben, das den gesamten Skandal von damals aufdeckte. Den Inhalt hier wiederzugeben würde zu weit führen. Ich kann nur jedem raten, sich einmal darüber zu informieren. Alleine durch die mutigen Protestaktionen in Frankreich aber auch in England und anderswo (nur Deutschland weigert sich bis heute als einziges Land in der EU in den Medien offen darüber zu schreiben) gerieten die Politiker unter einem so großen Druck, dass sie den Vetrag wieder zurücknahmen. Viele Menschenrechtler und prominente Wissenschaftler warnten damals davor, dass ein ähnlicher Vertrag von neuem aufgesetzt werden würde. Man würde es immer wieder versuchen, bis man die Aufmerksamkeit des Volkes verlieren würde. Trotz massiver Proteste weigerte man sich schon damals wesentliche Teile des Vertrages anzupassen. Statt dessen versuchte man es immer weider aufs neue. Bisher ohne Erfolg, dank vieler mutiger Bürger.

    Heute, wo alle über die Wirtschaftskrise sprechen ist tatsächlich der Fall eingetreten, dass die Aufmerksamkeit der Bevölkerung abgelenkt ist. Der Inhalt des Lissabonbvertrages entspricht in fast allen Punkten jenen des MAI-Vertrages, der damals von vielen seriösen Organsitationen als menschenrechtsverletztend, ausbeuterisch und als eine große Gefahr der Umwelt beurteilt wurde.

    Ich bete darum, dass die Iren Mehrheitlich die richtige Wahl treffen. Denn ich bin mir absolut sicher, dass es keinem Zufall entspricht, dass ausgerechnet dieses Land so hart von der Krise getroffen wurde. Doch wir sollten uns nicht auf die Iren verlassen. Wenn es um sein eigenes Leben geht, dann ist ein gesundes Misstrauen angebracht. Verspielt eure zukünftige Freiheit nicht. Wenn ihr sie ersteinmal verloren habt, könnt ihr sie nicht wieder herstellen.

  • W
    www.irland-erleben.blogspot.com

    Ein guter Beitrag, der genau beschreibt, wie die Leute in Irland sich mittlerweile verlassen fühlen; ob von der irischen oder europäischen Politik – das Ergebnis ist dasselbe. Allerdings darf man nicht vergessen, dass alle fleißig mitgefeiert haben, als der Celtic Tiger hier tanzte.

  • GH
    G. H. Pohl

    Immer schön alles durcheinander werfen….

    Es ist eine Sache, daß Irland den EU-Reformvertrag von Lissabon ablehnt. Ich vermute, das wäre in anderen Statten ebenso gewesen, hätte man den „Souverän“ – das Volk – gefragt. Man wußte schon, warum man dies nicht zuließ.

    Es geht nicht darum, daß man etwas gegen ein friedlich und gedeihliches Europa hätte, nein, man möchte diese undemokratischen, „elitären“ Strukturen loswerden, die keine oder nur noch wenig Bodenberührung haben.

    Eine andere Sache ist die Rezession, die von Bankiten mit ausdrücklicher Billigung der Politik verursacht wurde und deren Untaten nach einer ordentlichen Spritze, ausgerechnet von den Geschädigten, erneut fröhliche Urständ feiern. Und niemand hindert sie daran.

    Spare in der Zeit – so hast Du in der Not. Was aber, wenn wie in diesem System üblich, nur die Einen absahnen während die Andern hilflos zuschauen müssen? Da ist nichts mit „Sparen in der Not“. Die wünschen sich eher so reich zu sein, wie die Absahner arm sind….

  • UB
    Ulrich Bogun

    Der so genannte Reformvertrag ist in Wirklichkeit eine Verfassungsänderung der EU mit völliger Ermächtigung zur Willkür der Bürokraten und Selbstabschaffung der Funktion der nationalen Parlamente bis hin zur stillschweigenden Einführung der Todesstrafe in Europa.

     

    Da eine Verfassung in den meisten demokratischen Staaten vom Volk beschlossen werden muss und diese in mehreren europäischen Staaten abgelehnt wurde, hat man flugs beschlossen, gar keine Abstimmung mehr durchzuführen. Nur Irland hat sich durchgesetzt und schon einmal mit Nein gestimmt.

     

    Demokratie nach dem Verständnis unserer Volks"vertreter" bedeutet aber, der Sache einfach einen neuen Namen zu geben und so lange Wahlen durchzuführen, bis das Ergebnis stimmt.

     

    Unter diesen Gesichtspunkt wird auch das GG Art. 20 Abs. 4 abgeschafft werden müssen, da es der EU-"Verfassung" widerspricht. Aber in den meisten Paragraphen ist es ja eh nur noch Makulatur, da hat sein oberster Hüter gut Sorge getragen.

     

    Um sich dieses Trauerspiel mit einem Lied zu versüßen:

    http://www.youtube.com/watch?v=uTDjkJ7WX4U&feature=player_embedded