Irina ScherbakowaUnendliche Geschichte: Ist Stalin gestern gestorben?
Am 1. März 1953 erlitt Stalin einen Schlaganfall. Die Bewacher, die sich lange nicht trauten, sein Zimmer zu betreten, fanden ihn bewusstlos auf dem Boden liegend. Erst am 3. März wurde ein Bulletin veröffentlicht, und es war klar: Stalin lag im Sterben. Doch für Millionen sowjetischer Bürger war es unmöglich zu glauben, dass der sterben könnte, der eigentlich ewig leben sollte.
Ich war dreieinhalb Jahre alt, aber ich erinnere mich an diese Tage, weil man nur darüber sprach, ob Stalin im Sterben liegt oder bereits tot ist. Die Atmosphäre war angespannt. Man fürchtete, dass nach Stalin alles noch schlimmer wird. Denn wir waren Juden – und in diesem Moment waren alle in der Familie entlassen und erwarteten eine Verhaftung. Viele Ärzte wurden verhaftet und beschuldigt, sie hätten geplant, die Parteiführung zu vergiften.
Als am 5. März Stalins Tod verkündet wurde, weinte das ganze Land – mit Ausnahme der Gulag-Häftlinge und der wenigen, die wussten, dass ein blutiger Diktator die Welt verlassen hatte. Einige Tage später riss er noch Hunderte Moskauer mit sich in den Tod, die in dem Massengedränge bei seiner Beerdigung ums Leben kamen.
Nach seinem Tod kam kein Weltuntergang. Im Gegenteil, eine „Tauwetter“-Periode begann. Stalins Denkmäler wurden abgerissen, Porträts entfernt, Menschen aus dem Gulag entlassen. Man fand dafür eine Formel, „Kampf gegen den Personenkult“, der bald zu Ende war. Aber der Massenterror kehrte nicht mehr zurück. Doch das von Stalin geschaffene System blieb weiter bestehen; niemand konnte ihm entkommen – weder die Ungarn 1956 noch die Tschechen 1968.
Erst mit Beginn der Perestroika – ab 1986 – entstand das Gefühl, dass Stalin tatsächlich tot sei. Seine Welt begann zusammenzubrechen, die Sowjetunion zerfiel. Doch das Erbe des Stalinismus erwies sich als zählebig. Bald begann der Tschetschenienkrieg – zunächst nur als „Aufstoßen“ des Imperiums wahrgenommen, entwickelte er sich zum Auftakt einer bösartigen Restauration.
Mit Putins Machteintritt Ende 1999 wurde die autoritäre Herrschaft erneut zur Staatsdoktrin. Im Land wurden wieder Stalin-Denkmäler errichtet und eine verlogene Erinnerung an den Weltkrieg kultiviert, in der selbst Stalins Pakt mit Hitler nur positiv erwähnt werden durfte.
Putin macht keinen Hehl daraus, dass Stalins Geist über seiner Idee schwebt, sich das „Eigene“ zurückzuholen, vor allem die Ukraine. Für die Ukraine bedeutet Stalin brutalen Terror, die Zerstörung der ukrainischen Nationalkultur und den von ihm organisierten Holodomor, der Millionen das Leben kostete. Der Widerstand in der Westukraine nach 1945 dagegen wurde unterdrückt, viele wurden verhaftet und deportiert. Die heutige russische Aggression gegen die Ukraine knüpft an Stalins Politik an.
In den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten werden Denkmäler für die Opfer politischer Repression und des Holodomors zerstört. In Mariupol eröffnet ein Museum für Andrei Zdanow, Stalins engsten Gefährten, faktisch zweite Person in der stalinistischen Hierarchie der Nachkriegszeit.
Heute, in den schwersten Tagen für die Ukraine, scheint es, als könnte Stalin aus seinem Grab grinsend ein verwirrtes, ängstliches Europa beobachten, wie es Putins Aggression versucht mit Beschwichtigung zu begegnen, während sich der US-amerikanische Verbündete abwendet.
Bald wird die Dauer von Putins Herrschaftszeit die Stalins erreicht haben – es fehlt nur noch wenig. Und es gibt kaum Hoffnung, dass er sie nicht übertreffen wird. Stalin führte im Gegensatz zu Putin kein gesundes Leben, hatte Angst vor Ärzten und trieb seinen eigenen Tod voran. Doch es bleibt die bittere Wahrheit: Man hat es nie geschafft, ihn wirklich zu begraben. Das erste Signal dafür, dass sich das Land verändert – falls wir es noch erleben –, wird die endgültige Beisetzung Stalins sein.
Die Autorin ist Historikerin und Germanistin, Friedensnobelpreisträgerin mit Memorial International.
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