Irak: Das Chaos ist perfekt
Die blutigen Krawalle bei einem Pilgerfest in Kerbela markieren den vorläufigen Höhepunkt innerschiitischer Machtkämpfe. In Basra geht es um die Macht nach dem Abzug der Briten.
Die irakische Regierung hat nach den blutigen Auseinandersetzungen in Kerbela eine unbegrenzte Ausgangsperre verhängt und Verstärkung für die dortigen Sicherheitskräfte herangeschafft. Premierminister Nuri al-Maliki ist dort gestern persönlich zu einem Lokaltermin erschienen. Laut al-Maliki haben die Sicherheitskräfte die Lage nun unter Kontrolle, nachdem "kriminelle Gangs versucht haben, die heiligen Schreine unter ihre Kontrolle zu bekommen". Ein lokaler Armeekommandant wurde von al-Maliki entlassen und eine Untersuchung seines Verhaltens angekündigt.
Augenzeugen hatten berichtet, die Mahdi-Miliz des radikalen Schiitenführers Muktada al-Sadr habe sich Gefechte mit der Polizei geliefert. Al-Sadr selbst wies den Vorwurf einer Beteiligung seiner Miliz an den Kämpfen zurück und kündigte an, die Miliz anzuweisen, "all ihre Aktivitäten für sechs Monate auszusetzen". Ob das allerdings Wirkung zeigen wird, ist fraglich, hatten sich doch zuletzt auch innerhalb der Mahdi-Miliz immer stärkere Spaltungen gezeigt.
Bei den Kämpfen zwischen rivalisierenden Schiitenparteien starben während des Pilgerfestes in Kerbela in den letzten Tagen mindestens 52 Menschen. Mehr als 300 wurden verletzt. Auch am Mittwoch waren noch sporadisch Schüsse zu hören, nachdem Sicherheitskräfte die mehreren hunderttausend Pilger nach Hause schickten, die Stadt ab- und den heiligen Schrein im Zentrum zusperrten.
Nimmt man die religiösen Feiertage der Schiiten als Maßstab für den Zustand des Irak, ergibt sich ein düsteres Bild. Kurz nach dem Sturz Saddams vor mehr als vier Jahren waren Millionen zuvor politisch und religiös unterdrückter Schiiten voller Optimismus und mit neuem Selbstbewusstsein zu ihren heiligen Stätten in Kerbela und Nadschaf gepilgert. Doch die erste friedliche Zeit war schnell vorbei. In den folgenden Jahren wurden die schiitischen Pilger immer wieder Ziel brutaler Anschläge sunnitischer Militanter im Stile al-Qaidas. Im März 2004 war in Kerbela ein schwerer Autobombenanschlag verübt worden, bei dem mehr als hundert Menschen starben. Inzwischen ist die große politische Allianz der Schiiten längst auseinandergebrochen. Beim dieswöchigen Schabania-Pilgerfest, bei dem die größte konfessionelle Gruppe des Landes den Todestag ihres im 9. Jahrhundert verschollenen letzten heiligen Imam al-Mahdi begeht, bringen sich die Schiiten nun gegenseitig um. Das irakische Chaos ist perfekt.
Die genauen Umstände der am Montag ausgebrochenen Auseinandersetzungen sind noch unklar, aber es scheint, dass die Anhänger der Schiitenmiliz Muktada al-Sadrs mit den Wächtern des Schreins aneinandergeraten sind, die den konkurrierenden schiitischen Badr-Milizen des Obersten Rates der Islamischen Revolution angehören. Damit hätte der Machtkampf rivalisierender schiitischer Milizen um den Einfluss auf die schiitischen heiligen Stätten und das Pilgergeschäft einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Auch in Bagdad und der schiitischen Stadt Kut, 150 Kilometer südöstlich der Hauptstadt, war es diese Woche bereits zu Schusswechseln zwischen den beiden konkurrierenden schiitischen Gruppierungen gekommen.
Dabei bleiben die genauen Fronten oft unübersichtlich, da in den letzten Monaten mehrere selbsternannte messianische Ajatollahs bewaffnete Männer um sich gesammelt haben und versuchen, ihre Machtsphäre auszubauen. Einer der in Kerbala mächtigsten ist "Ajatollah" Sayyid Mahmud Hassani al-Sarkhi, dessen mehrere zehntausend Anhänger und eigene Miliz mehrfach die irakischen Sicherheitskräfte und andere Milizen militärisch herausgefordert haben. Typisch für diese neue Art von schiitisch religiösen Führer: Al-Sarkhi entstammt nicht der Hierarchie des schiitisch-religiösen Establishments und ist dort nicht als religiöse Autorität anerkannt. Den Titel "Ajatollah" hat er sich selbst verliehen. Er ist kein Einzelfall.
Neben Kerbela und Nadschaf ist auch ein schiitischer Machtkampf um die zweitgrößte irakische Stadt Basra entbrannt. Die hohen Betonmauern rund um die schwerbewachten Gebäude der Büros rivalisierender schiitischer Parteien sprechen dabei Bände. Kurz vor dem endgültigen Abzug der britischen Armee stehen verschiedene schiitische Milizen in den Startlöchern, die Zweimillionenstadt und vor allem die Verteilung des Ölreichtums zu übernehmen, der den Quellen rings um die Stadt entspringt. Dabei wird die Metropole des Südens des Landes derzeit von einem äußerst fragilen Kräfteverhältnis beherrscht. Die schiitische Fadhila-Partei stellt die Wächter der Ölquellen und der gesamten Produktionsinfrastruktur des schwarzen Goldes. Al-Sadrs Mahdi-Armee kontrolliert die lokale Polizei und die Badr-Milizen haben den örtlichen Geheimdienstapparat und die Elitetruppen des Innenministeriums unterwandert. Wie schnell dieses Konstrukt aus dem Gleichgewicht geraten kann, zeigte der Streit um das Amt des Chefs der Elektrizitätswerke, der zwischen den Milizen und vor den Augen der britischen Armee offen militärisch ausgetragen wurde und in dem die Milizionäre mit Polizeifahrzeugen zum Ort des Geschehens transportiert worden sind. Letzten Freitag verließ dann das letzte Kontingent britischer Soldaten das Zentrum der Stadt, um sich auf einen Stützpunkt am Stadtrand zurückzuziehen.
Derzeit soll die britische Armee hinter den Kulissen mit den verschiedenen Milizen in Verhandlungen stehen: Nicht darüber, wer die Stadt übernimmt, sondern darüber, dass die britischen Soldaten bei ihren endgültigen Abzug nicht angegriffen werden.
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