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Interview zur Medikamentenzulassung„Identifizierung nicht möglich“

Das Leibniz-Institut für Arzneimittelrisikoforschung darf künftig die Daten von 24 Millionen Patient*innen speichern. Wofür das gut ist, erklärt Direktorin Iris Pigeot

Durch das Schlafmittel Contergan des Aachener Pharmaunternehmens Grünenthal kamen nach 1957 Tausende Kinder mit Missbildungen zur Welt. Foto: dpa
Gareth Joswig
Interview von Gareth Joswig

taz: Frau Pigeot, wieso konnte das Medikament Contergan gegen Schwangerschaftsübelkeit in den Sechzigern weltweit bis zu 10.000 Kinder schädigen?

Iris Pigeot: Es gab damals keine Überwachung von Arzneimitteln nach der Zulassung. Nach der Entwicklung kam ein Medikament direkt auf den Markt.

Kann ein derartiger Skandal heute noch passieren?

Nicht in diesem Umfang. Heute gibt es vor einer Marktzulassung zunächst umfangreiche Wirksamkeitsprüfungen.

Im Interview: Iris Pigeot

56, ist Statistikerin und seit 2004 Direktorin des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie.

Wie viele Menschen braucht man für eine Zulassung?

Es sind eher kleine Patientenkollektive. An 3.000 bis 5.000 Menschen wird über kurze Zeiträume ein neues Medikament getestet. Keine Zulassung sollte zu lange dauern, sonst wäre den Kranken nicht geholfen.

Wie kann man so seltene Nebenwirkungen oder Spätfolgen von Medikamenten herausfinden?

Gar nicht. Hinzu kommt, dass die Einnahme im wahren Leben auch anders als in einer Studie ist: Oft werden etwa mehrere Medikamente gleichzeitig genommen. Deswegen ist es dringend nötig, Arzneimittel nach der Zulassung zu monitorieren. Das gab es früher ebenso wenig wie große Datenbanken. Heutzutage würden bereits einzelne Fälle bei der Einnahme von Contergan zu einer strengen Prüfung des Medikaments führen und gegebenenfalls zur Marktrücknahme. Ein solches Ausmaß an Schaden könnte ein Medikament heute nicht mehr anrichten.

Im Interview: 

Der Bundesrat hat gerade beschlossen, dass Sie über große Datensätze länger verfügen dürfen. Warum?

Sozialdaten sind in Deutschland gut geschützt. Sie können zu Forschungszwecken verwendet werden, wenn das Allgemeinwohl betroffen ist. Vor der Gesetzesänderung mussten Daten für konkrete Forschungsvorhaben angefragt und am Ende des Projekts wieder gelöscht werden. Die langfristige Sicherheit von Arzneimitteln und unbekannte Arzneimittelrisiken konnten so nicht untersucht werden.

Inwiefern hat sich das geändert?

Jetzt können wir in Bremen eine Gesundheitsdatenbank zur systematischen Überwachung der Arzneimittelsicherheit aufbauen. Unsere Daten aus einer zehnjährigen Studie umfassen 24 Millionen Personen. Die hätten eigentlich zum Jahresende gelöscht werden müssen. Jetzt dürfen wir einen Antrag auf weitere Nutzung stellen.

Wie gewährleisten Sie die Sicherheit solch sensibler Datenmengen?

Eine Identifizierung von Personen ist nicht möglich. Bevor wir die Daten bekommen, ersetzt die Krankenkasse Namen von Personen mit Nummern. Dann gehen verschlüsselte Datenträger per Boten an eine Vertrauensstelle. Dort werden die Nummern entfernt und neue vergeben und die Daten vergröbert. So wird nur das Geburtsjahr und die Gemeindekennziffer des Wohnorts übermittelt. Erst dann gehen sie in die Aufbereitungsstelle unseres Forschungsinstituts. Dort bereiten wir die Daten so auf, dass sie nur zweckgebunden für eine konkrete Studie benutzt werden können. Die Forscher haben niemals Zugriff auf den gesamten Datensatz.

Gab es in letzter Zeit Medikamente, die Schäden nach ihrer Zulassung verursacht haben?

Ja klar. Das berühmteste ist Diclofenac. Wir haben herausgefunden, dass das Schmerzmittel zu Herzinfarkten führen kann. Das heißt, dass man bei der Verschreibung dieses Medikaments die familiäre Vorbelastung berücksichtigen muss. Ein weiteres Beispiel: Die Impfkommission hat eine Zeit lang eine Vierfach-Impfung gegen Mumps, Masern, Röteln und Windpocken empfohlen. Wir haben herausgefunden, dass diese Impfung gegenüber der alten Dreifach-Impfung mit einer separaten Windpocken-Impfung das dreieinhalbfache Risiko für Fieberkrämpfe barg. Die Impfkommission ist zurückgerudert und empfiehlt jetzt wieder eine Dreifach-Impfung plus der Windpockenimpfung.

Für wie sinnvoll halten Sie Tierversuche in der Forschung? Ärzte gegen Tierversuche kritisieren, dass sie gar keinen Mehrwert haben, und selbst wenn es so wäre, sie dennoch aus ethischen Gründen abzulehnen wären. Wie schätzen Sie das ein?

Ich kann nicht sagen, dass Tierversuche nicht sinnvoll sind. Ich habe mich sehr lange mit dieser Frage beschäftigt, um sie in Gänze zu verstehen. Als ich jünger war, habe ich ein Tierversuchslabor besucht. Da waren fünf Kätzchen, die normal aussahen, schmusten und sprangen. Ich habe gefragt: Was ist mit denen? Ihnen wurde nach der Geburt ein Auge entfernt.

Warum?

Wenn kleine Kinder etwa nach einem Sturz ein Glasauge brauchen, gibt es das Problem, dass Prothesen nicht mitwachsen und sich der Kopf und das Gehirn infolge dessen asymmetrisch entwickeln. Das ist ganz furchtbar und hat auch kognitive Folgen. Es braucht ein Auge, das mitwächst, wie ein Ballon. Deswegen haben sie ballonartige Prothesen zunächst bei Kätzchen getestet und geguckt, ob sich deren Proportionen und Gleichgewichtssinn mit der Prothese normal entwickeln. Das war so. War dieser Versuch nun nicht sinnvoll?

Ein großes Problem bei Tierversuchen ist die Übertragbarkeit.

Genau wie in Zulassungsstudien braucht es eine Ethikkommission. Es sollte kein Tierversuch durchgeführt werden, der nicht so geplant ist, dass er die notwendigen Erkenntnisse bringen kann. Wo immer ein Versuch ersetzt werden kann, sollte man das tun. Früher hat man toxische Stoffe in Kaninchenaugen gesprüht, später nahm man stattdessen dann Eidotter dafür. Tierversuche müssen genauso stark reglementiert sein wie Versuche am Menschen, und schließlich sind Arzneimittelzulassungsstudien nichts anderes als solche. Insgesamt hat sich bei Tierversuchen in der Zwischenzeit viel verändert. Dennoch bleibt das grundsätzliche Problem, ob die Ergebnisse von Tierversuchen auf den Menschen übertragen werden können, was von vielen hinterfragt wird. Die Entscheidung bleibt unglaublich schwer: Ohne Forschung an lebenden Organismen wäre unsere medizinische Versorgung schlechter.

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1 Kommentar

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  • Tierversuche sind nicht sinnvoll, sondern eine Gefahr!

    Ob ein Medikament am Patienten wirkt, weiss man immer erst nach der Vergabe. Alleine deshalb macht es Sinn, Patientendaten großflächig zu vergleichen. Tierversuche bei der Medikamentenentwicklung tragen zum größten Teil dazu bei, dass die Einnahme für die Probanden in der klinischen Phase und auch für die Patienten nach Markteinführung mit einem sehr hohen Risiko verbunden ist. 95% der im Tierversuch als wirksam getesteten Substanzen fallen in der klinischen Phase raus. Generell kann man sagen, dass Ratten und Mäuse die Giftigkeit einer Substanz beim Menschen gerade einmal zu 43% voraussagen. Da könnte man fast besser eine Münze werfen! 60% der im Tierversuch als giftig eingestuften Substanzen sind für Menschen ungiftig. Wieviele wirksame Medikamente bleiben uns also vorenthalten, weil wir Tierversuche machen?

    Zahlreiche humanrelevante Forschungsmethoden sind effizienter und sollten extrem finanziell gefördert werden um eine medizinische Versorgung sicherzustellen.

    Die Niederlande machen es vor und wollen bis 2025 alle Giftigkeitsprüfungen an Tieren abgeschafft haben. Das machen sie wohl weniger aus Tierliebe als wegen des medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritts und Vorsprungs gegenüber den anderen Ländern.

    Da sollte Deutschland Schritt halten anstatt an veralteten, zweifelhaften Methoden festzuhalten.