Interview mit dem Gerichtsmediziner Michael Birkholz: „Mit Toten gewinnt man keine Wahlen“

Als erstes Bundesland will Bremen die qualifizierte Leichenschau einführen - auch als Reaktion auf den Pfleger, der in Delmenhorst 30 Patienten umgebracht hat.

Dieser Arzt interessiert sich mehr für den Körperbau als für die Todesursache: „Die Anatomie des Dr. Tulp“ von Rembrandt. Foto: The Yorck Project

taz: Herr Birkholz, wie viele Menschen sterben in Deutschland jedes Jahr einen unnatürlichen Tod, ohne dass es jemand mitbekommt?

Mindestens 11.000 Todesfälle bleiben jedes Jahr unentdeckt. Als Obergrenze sind sogar 22.000 angegeben. Es gibt dazu eine Studie der Uni Münster, die Ende der neunziger Jahre veröffentlicht wurde.

Wie kann das denn passieren?

Zum einen, das besagt eine Hamburger Studie aus dem vergangenen Jahr, entkleiden gerade mal 50% der Ärzte die Leichen bei der Leichenschau. Nur 27% schauen nach Erstickungsblutungen. Dabei ist das Entkleiden gesetzlich vorgeschrieben. Wer die Leiche nicht auszieht, kann auch nichts erkennen. Die Sache wird nicht ernst genommen. Außerdem fehlt bei vielen Kollegen schlicht das Verständnis für den nicht natürlichen Tod. Wenn man einen Totenschein sieht, auf dem steht: „Zustand nach Ertrinken in der Badewanne: natürlicher Tod“, dann fragt man sich: wie geht das? Für viele ist unnatürlich nur Mord und Totschlag. Bei Unfalltoten kommt hinzu, dass dem Notarzt viele Informationen über den Toten fehlen. Da ist nur eine oberflächliche Deutung möglich.

Warum ist es denn überhaupt wichtig jeden unnatürlichen Tod zu erkennen?

Die Frage ist: Wie wichtig ist es unserer Gesellschaft, Straftaten, Vernachlässigungen, Pflege- oder Behandlungsfehler aufzudecken? Ist es wichtig, dass so was raus kommt oder ist uns das eigentlich egal? Das darf uns nicht egal sein im 21. Jahrhundert. Zudem betrüge ich die Angehörigen um die Unfallversicherung, wenn einer von der Leiter fällt und ich einen Herzinfarkt eintrage. Und die Mortalitätsstatistik ist ein wichtige Basis für die Gesundheitspolitik. Woran stirbt wir in Deutschland? Das findet man heraus, in dem man Totenscheine auswertet.

Unter Ärzten gilt die Leichenschau dennoch als notwendiges Übel.

Klar, Ärzte wollen Menschen gesund machen. Es ist auch nicht die pure Lust mit Verstorbenen umzugehen. Die meisten Ärzte sind auch nicht dafür ausgebildet. Außerdem bekommt der Arzt nur rund 50 Euro für die Leichenschau, für die Untersuchung selbst sogar nur 14,32 Euro. Wenn der Schlüsseldienst kommt, bekommt der schnell das Achtfache. Die Leichenschau ist Teil der Bestattungskosten. Man kann sich auch fragen, warum das keine Kassenleistung ist? Zumal es die letzte Behandlung am Patienten ist. Doch die werden das auf Teufel komm raus nicht übernehmen.

Ist der tote Patient nicht mehr wichtig?

Genauso lange wie die qualifizierte Leichenschau gefordert wird, wird von der Ärztekammer auch eine bessere Bezahlung gefordert. Das Gesundheitsministerium legt die fest. Sabine Rückert hat vor Jahren das Buch „Tote haben keine Lobby“ geschrieben. Ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legt. Denn sie hat recht, tote finden wirklich keine Lobby. Mit Toten gewinnt man schließlich keine Wahlen. Das ist für niemanden interessant. Auf das Leichenschausystem in Deutschland wirkt sich das katastrophal aus.

Bremen soll ab Januar das erste Bundesland werden, in dem die qualifizierte Leichenschau verpflichtend wird. Was verbessert sich damit?

Bisher ist das zumindest angekündigt, ja. In Deutschland hat jeder ein Recht auf Facharztbehandlung. Das muss auch für die Toten gelten. Am Ende der Leichenschau steht immer die Frage: muss ich die Polizei holen oder muss ich nicht? Es geht also darum, möglichst viele Informationen zu sammeln. Bisher kommt der Arzt, schaut sich den Toten kurz an und füllt den Schein aus. Zur qualifizierten Leichenschau gehört mehr. Zum einen kennt der Spezialist viele Befunde die er da sieht besser und kann sie vernünftig werten. Dazu kommt die Einbeziehung der Umgebung. Liegt die Einberufung zum Strafvollzug auf dem Tisch? Sind die Möbel verrückt? Dann hört man sich im Umfeld um. Wohnte hier ein Einsiedler oder war jeden Tag Party? Wenn die Leiche unauffällig wirkt, mir der Nachbar aber erzählt, er habe letzte Woche im Lotto gewonnen, dann rufe ich doch die Polizei hinzu.

Kann so auch verhindert werden, dass, wie in Delmenhorst geschehen, ein Pfleger 30 Patienten tötet?

Ja, im Delmenhorster Klinikum wurde die qualifizierte Leichenschau zum ersten August bereits eingeführt. Dort ist vor allem auch das Vier-Augen Prinzip wichtig. Was in Delmenhorst passiert ist, hätte aber auch in jedem anderen Krankenhaus passieren können. Dort werden die schlechtesten Totenscheine ausgefüllt. Nach 16 Uhr ist oft nur noch ein Bereitschaftsarzt da, der mit wehendem Kittel durch die Klinik rennt. Wenn der zum Toten kommt sagt die Schwester: „Auf den Tod warten wir schon drei Tage. Wegen dem Herz und so.“ Dann unterschreibt er und ist schon wieder weg.

Klingt nach ordentlich Betrieb für den bisher von Ihnen geführten, aus der Rechtsmedizin ausgelagerten, privaten Beweissicherungsdienst.

Ja, aber wieso nicht. Die Angehörigen sind froh, wenn ein Experte drauf schaut und ihnen versichern kann, dass der Opa nicht ermordet wurde. Wir schauen uns jetzt schon über 1.000 Leichen jährlich in Bremen an. Die Polizei ist zufrieden mit unserer Arbeit und hat den Vertrag erst letztens um drei Jahre verlängert. Nur dass immer erst was passieren muss, damit die Politik reagiert, ist schade.

Seit wenigen Tagen sind Sie in Rente. Wie geht es denn mit der Bremer Rechtsmedizin weiter?

Der Beweissicherungsdienst macht 95 Prozent der Arbeit in Bremen. Die Rechtsmedizin selbst soll bald um eine universitäre Kooperation ergänzt werden. Entweder mit Hannover, mit denen wir schon kooperieren und jährlich fast 5000 Leichen beschauen oder mit der Rechtsmedizin in Hamburg, die sich darum sehr bemüht. Im September wird die Gesundheitsdeputation der Bremischen Bürgerschaft über den Partner abstimmen.

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