Interview mit Sarah Wagenknecht: "Gutes Leben ist stressfreies Leben"
Freiheit von sozialer Angst gehört zentral zu einem guten Leben, sagt Sahra Wagenknecht. Die Vizeparteichefin der Linken diskutiert auf dem tazlab über das Thema.
tazlab: Frau Wagenknecht, beim tazlab im April wollen die taz-LeserInnen mit Ihnen über "Das gute Leben" diskutieren. Wie sieht das für Sie aus?
Sahra Wagenknecht: Das gute Leben haben wir, wenn niemand mehr Angst haben muss, sozial abzustürzen. Aber das gute Leben schließt für mich genauso ein, dass man Zeit hat, freie Zeit für Familie und Freunde, für die, die man gern hat. Gutes Leben ist stressfreies Leben.
Und wie sieht das gute Leben aus der Sicht einer Linkspartei-Politikerin aus?
Das heißt, in einer Gesellschaft leben zu können, wo alle gut leben. Also eine, in der es keine großen sozialen Kontraste gibt. Es bedeutet nicht, dass jeder das Gleiche kriegt. Aber für mich wäre es kein gutes Leben, selbst im Wohlstand zu leben und diesen Wohlstand mit Sicherheitszäunen gegen die Armen da draußen absichern zu müssen.
Führen Sie ein gutes Leben?
Jahrgang 1969, erste stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, ist für diese wirtschaftspolitische Sprecherin ihrer Bundestagsfraktion. Wagenknecht studierte Philosophie und Neuere Deutsche Literatur in Jena, Berlin und Groningen, Niederlande.
Seit 1991 ist die medienerfahrene Politikerin mit kurzen Unterbrechungen im Vorstand der PDS bzw. der Linken.
Auf dem tazlab am 14. April 2012 können taz-Lesende mit Sahra Wagenknecht über das gute Leben diskutieren.
Ich kann nicht jammern, natürlich habe ich materiell einen guten Lebensstandard. Andererseits ist es so, dass ich, seit ich im Bundestag bin, viel zu wenig Zeit habe, Bücher zu lesen, durch die Berge zu laufen, schöne Dinge zu tun. Das fehlt mir sehr.
Ein gängiges Vorurteil gegen die Linkspartei lautet, sie wolle im Interesse der Allgemeinheit dem Einzelnen vorschreiben, wie er gut zu leben hat. Was ist da dran?
Das ist völlig absurd. Es ist ja eher der Neoliberalismus, der dem Einzelnen faktisch seinen Lebensentwurf aufzwingt. Dadurch, dass für viele der Zweit- und Drittjob überlebensnotwendig wird oder endlose Überstunden abverlangt werden, wird die Zeit für Familie und Freunde immer kürzer. Die Dinge, die zum Menschsein dazugehören - Lesen, Liebe, Feste -, dazu böte eine sozial gerechtere Gesellschaft mehr Freiräume. Wir brauchen dringend kürzere Arbeitszeiten, nicht immer längere.
Trifft es zu, dass Sie Firmenerben enteignen wollen?
Fakt ist, viele Firmen gehen im Erbfall kaputt: Sie werden an Heuschrecken verkauft, oder ihre Substanz wird in Erbstreitigkeiten ausgezehrt. Die Leidtragenden dieser Prozesse sind immer die Beschäftigten, die im schlimmsten Fall ihre soziale Existenz verlieren. Die Erben dagegen bekommen leistungslos ein Vermögen. Deswegen meine ich: Im Erbfall sollte eine Firma an die übergehen, von deren Leistung sie lebt. Das sind nicht die Sprösslinge, sondern die Beschäftigten.
Ihre Idee wird die Erbengeneration nicht gerade zu Linkspartei-Wählern machen.
Ich finde, in puncto Wirtschaft ist der Kapitalismus eine feudale Gesellschaft. In einer Demokratie ist klar, dass politische Macht nicht vererbbar ist, aber die Vererbbarkeit von Wirtschaftsmacht wird hingenommen. Ganz unabhängig von der Frage, dass es eben auch kein Gen unternehmerischer Fähigkeiten gibt, das erblich wäre. Diesen Wirtschaftsfeudalismus sollte man dringend überwinden.
Utopisch. Ein Facharbeiter ist doch kein Betriebswirt.
Der Erbe eines Firmengründers ist doch auch nicht automatisch ein guter Betriebswirt. Viele Firmen werden ohnehin von bezahlten Managern verwaltet. Die Frage ist ja nur, ob diese Manager von Privateigentümern mit dem Ziel hoher Rendite engagiert werden oder von den Mitarbeitern mit dem Ziel guter Unternehmensführung. Beides ist bei Weitem nicht das Gleiche, wie auch aktuell Fall Schlecker zeigt.
Nennen Sie drei Dinge, die das Leben wenn schon nicht gut, so doch besser zu machen.
Der Mindestlohn von 10 Euro würde die Situation von Millionen Menschen in Hungerlohnjobs deutlich verbessern. Wir brauchen dringend wieder eine gesetzliche Rente ab 65, die den Lebensstandard sichert, anstelle der dummen und gefährlichen Riesterei. Und natürlich brauchen wir eine gute Arbeitslosenversicherung statt Hartz IV. Freiheit von sozialer Angst gehört zentral zu einem guten Leben.
Davon mal abgesehen, gibt es auch eine Art Soft Skill, etwas, wovon Sie sagen, das macht einfach glücklich?
Ganz klar: freie Zeit. Zeit für Liebe, für Freundschaft, für Muße, für Kunst. Wer gönnt sich denn noch den Luxus, ins Theater zu gehen, Bücher zu lesen? Wenn man einen Zehn-, manchmal Vierzehnstundentag hinter sich hat, ist man einfach zu schlapp, um noch etwas Anspruchsvolles zu lesen. Menschen dafür Zeit zu geben, das wäre ein riesiger Gewinn an Lebensqualität.
Wenn Sie im April zum tazlab kommen, worüber möchten Sie gern ausführlicher mit den Besuchern diskutieren?
Muße und Freizeit sind immer unterbewertet. Wer die hat, kann auch stärker soziale Beziehungen pflegen. Der Kapitalismus hat ein Menschenbild kultiviert, wo der Einzelne nur noch als eigensüchtiger Egoist gesehen wird, der seinen Vorteil maximiert. Aber das sind Menschen nicht. Sie sind soziale Wesen. Eine Gesellschaft, in der alle sozialen Beziehungen ökonomisiert werden, ist im Wortsinn un-menschlich.
Ehrlich: Wann waren Sie denn das letzte Mal im Theater, also in jenem guten Leben, von dem wir hier reden?
Tja, wann? Ich glaube, im Herbst. Ich bin früher viel öfter gegangen, aber bei dem heutigen Arbeitsalltag ist das richtig schwierig. Die Termine in Sitzungswochen enden nie zur Theaterzeit.
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