Interview mit Renan Demirkan: "Sprache kann fürchterlich wehtun"

Sie hatte ständig Panik - bis zum Tod ihrer Mutter, sagt Renan Demirkan. Die Schauspielerin und Schriftstellerin über das Leben in der Fremde und ein Begräbnis in der Heimat.

Die Schauspielerin Renan Demirkan bei der "Eröffnung der bundesweiten Aktionswoche gegen Rassismus" im letzten Jahr. Bild: dpa

taz: Frau Demirkan, Sie schreiben über die zerklüftete Identität von Migranten. Zählen Sie sich selbst zu dieser Gruppe?

Die Privatperson: Renan Demirkan wurde 1955 in Ankara geboren und kam 1962 mit ihren Eltern und ihrer Schwester nach Deutschland. Nach dem Abitur begann sie mit einem Politik- und Wirtschaftsstudium, wechselte aber an die Hochschule für Musik und Theater in Hannover, an der sie 1980 ihren Abschluss machte. Demirkan war mit einem österreichischen Bühnenbildner verheiratet und hat eine Tochter. Sie lebt heute in der Nähe von Köln.

Die Schauspielerin: Ihr erstes Bühnenengagement erhielt Demirkan in Nürnberg. Neben ihren Theaterrollen spielte sie auch in zahlreichen Fernsehproduktionen. So war sie 1983 in dem Film "Super" neben Udo Lindenberg zu sehen, 1993 in "Der große Bellheim" und 2007 in "Schattenkinder".

Die Autorin: Die Künstlerin hat zahlreiche Bücher geschrieben. Zuletzt: "Septembertee oder Das geliehene Leben", Gustav Kiepenheuer Verlag, 16,95 Euro

Renan Demirkan: Nein, ich bin die Nutznießerin der Zerklüftung meiner Eltern. Weil die beiden alles daran gesetzt haben, damit wir keine Ausgrenzung erleben. Aber ich fühle mich oft hin und hergerissen, zwischen einem türkischen und deutschem Gefühl.

Sie engagieren sich seit langem für Menschenrechte. Kann man in Deutschland als ein öffentlicher Migrant eigentlich nichtpolitisch sein?

Natürlich, aber ich war schon als Kind renitent gegen Ungerechtigkeiten. Ich wäre auch nicht so politisch geworden, wenn nicht jeder, wirklich jeder, der mich hat reden hören, gefragt hat, wieso kannst du so gut Deutsch? Und dann die Frage: "Trägt deine Mutter ein Kopftuch?"

Der Tod Ihrer Mutter vor drei Jahren war ein wichtiger Einschnitt in Ihrem Leben und wird in Ihrem neuen Buch verarbeitet. Wenn Sie an ihre verstorbene Mutter denken, welches Bild schießt ihnen spontan durch den Kopf?

Ich sehe eine große Leinwand, mit ganz vielen Bildern. Ich sehe sie jung, mittelalt - ich sehe sie in ihren letzten Momenten, in denen es ihr sehr, sehr schlecht ging. Ich sehe ihre letzte Minute, ihre letzte Sekunde.

Kein klar umrissenes Bild?

Es gibt kein einzelnes, genaues Bild, das mir spontan durch den Kopf schießt. Ich sehe all ihre Gesichter auf einer Leinwand.

Haben Sie noch ihre Stimme im Ohr?

Ja, ich habe den Klang so in mir, dass ich sie immer hören kann. Früher waren Gott und Himmel immer Plattitüden, aber jetzt hat beides ein Gesicht für mich - nämlich das meiner Mutter.

Und ihren Geruch?

Den eher nicht. Ich habe eine Erinnerung daran, als wäre sie erst gestern weggegangen. Für mich ist sie auch nicht verschwunden, ich habe immer das Gefühl, sie taucht bald wieder auf.

Wann wurde Ihnen dennoch bewusst, dass Ihre Mutter nie wieder zurückkommen wird?

Ich weiß ja, dass ich sie in ihr Dorf weggebracht habe. Aber trotzdem kann immer noch nicht glauben, dass sie da liegen soll. Ich habe sie zuletzt nach der rituellen, islamischen Waschung gesehen. Was ich nicht gesehen habe, ist, wie ihr Körper beerdigt wurde. Wahrscheinlich hätte ich den Moment nicht ausgehalten. So stand ich vor einem Haufen Erde und habe mich von ihr verabschiedet. Dennoch ist sie nicht ganz weg.

Wer seine Mutter verliert, verliert eine ganze Welt, schreiben Sie. Welche Welt haben Sie verloren?

Meine Kindheit und einen Teil meiner Identität. Ich bin 50 Jahre lang ihr Kind gewesen, wir waren eine Einheit. Dann haben wir sie verloren und ich musste erwachsen werden. Aber ich war noch lange nicht dazu bereit.

Wieso?

Ich fühlte mich abgeschnitten von meiner Geschichte. Bis zu dem Verlust meiner Mutter habe ich den Tod nicht akzeptiert, war immer mit einer Schnappatmung unterwegs. Ich war 50 Jahre lang ein Angstbündel, hatte panische Furcht vor dem Tod, ohne zu ahnen, dass das auch eine Angst vor dem Leben ist. Bloß nicht stillstehen, habe ich nur immer gedacht. Aber seitdem ist der Tod nun auch in meinem Leben, und so seltsam das klingen mag - ich bin irgendwie entspannter geworden und habe Gedanken zugelassen, die ich vorher nicht hatte.

Aber der Tod gehört doch immer zum Leben.

Ich hatte aber immer eine sehr große Panik vor diesem Thema. Ich wollte nie sterben und will es auch heute nicht. Aber nach dem Tod meiner Mutter habe ich mich sogar entschieden, wo ich begraben werden will - nämlich in Deutschland, und in der Nähe meiner Tochter. Der Tod läuft jetzt ständig auch mit mir mit. Er hat sich mit einer urgewaltigen Macht in mein Leben gedrängt - dass ich ihm nicht mehr ausweichen kann. Er hat mir meine Mutter geklaut. Ich weiß, dass er mir wehtun kann.

Ihre Mutter war eine Einwanderin und Muslimin, die schlecht schreiben und lesen konnte. Ist man da in Deutschland nicht fast schon zum Scheitern verurteilt?

Mit Sicherheit. Aber meine Mutter war nicht alleine, denn sie hatte meinen Vater und ihre beiden Mädchen. Vor allem hatte sie sich selbst, dass konnte ihr niemand ersetzen. Sie stand mit beiden Beinen in der Welt, unerschüttbar.

Wie hat Sie über Deutschland gedacht?

Sie hat gestaunt über diese Menschen, über die Autobahntunnel, die nicht enden wollten, über Hochhäuser, ach, über alles mögliche. Sie lief mit offenen Armen durch dieses Land. Sie war ein Mensch voller Respekt und hatte damit die größte Voraussetzung, um auf andere Personen zuzugehen.

Dennoch ist sie, wie man lesen kann, nie in Deutschland heimisch geworden.

Das stimmt, aber mehr als mein Vater. Obwohl er freiwillig in das Land der Dichter und Denker gekommen ist, ganz bewusst. Sie folgte ihm und dem Ruf des Mannes. Beide sind nicht glücklich geworden, wollten zurück und sind nie hier angekommen. Meine Mutter hatte eine Navigation, mit den Richtungen "zurück" und "irgendwie". Es war ein sicherer Haltegriff, ein Kompass in diesem Leben. Während mein Vater eher verloren herumirrte.

Wenn Deutschland nicht Ihre Heimat war, was war es dann?

Ein vorübergehender Abschnitt

Ein provisorisches Leben?

Ja, es war eine Brücke zwischen zwei Welten und Zeitbegriffen. Zwischen gestern und morgen. Aber sie hat sich in dieser Improvisation eingerichtet, es war ihr nicht unbequem.

Aber anstrengend.

Es ist wahnsinnig anstrengend, aber meine Eltern haben über ihre Gefühle und Ängste sehr wenig geredet. Sie haben selten gelacht, ich kann mich deswegen genau an die einzelnen Momente erinnern, wenn bei uns gelacht wurde. So, wie man sich an schöne Geschenke erinnert.

Ihre Mutter wurde in der Türkei beigesetzt. Warum nicht in der Nähe ihrer Töchter?

Weil sie uns sehr geliebt hat, sie wollte uns nicht die Last aufbürden, sich ständig um das Grab kümmern zu müssen. Wir mussten ihr Versprechen, sie zurück auf den "Rücken ihrer Ahnen" zu bringen, beizusetzen in die Erde, aus der sie nicht vertrieben werden kann, wo ihr Grab noch von den Nachgeborenen verteidigt wird. Sie wollte in ihre Heimat, weil ihr unsere Existenz hier immer wieder wie ein geliehenes Leben erschien. Deswegen haben wir sie weggebracht.

Aber fehlt ihnen kein Ort, an dem Sie trauern können?

Doch, ich habe sie doppelt verloren. Einmal als Tochter und einmal als Trauernde. Wahrscheinlich ist es auch das, was mich immer noch so aufwühlt. Deswegen kann ich nicht loslassen und habe sie zu mir geholt - überall hängen Bilder von ihr.

Und ihr Vater? Fern seiner Heimat, die Ehefrau tot, seine zwei Töchter außer Haus. Was hält ihn hier in Deutschland?

Das ist eine Tragödie, die er wahrscheinlich mit ganz vielen Menschen teilt. Aber offensichtlich ein Gefühl, dass man in diesem Alter aushalten muss. Die Rückkehr hängt wie ein tiefer Nebel in seinem Leben, und jeder Autofahrer kennt solch eine Situation: Je länger der Nebel andauert, desto orientierungsloser macht er einen und kann zu einer Erstarrung führen. Das Gefühl, nicht gewollt zu sein, ist eine zusätzliche Tragödie.

Woher kommt sein Gefühl, nicht gewollt zu sein? Immerhin lebt er seit 1968 hier …

… das ist ja nicht nur ein Gefühl, das ist die praktische Politik. Sichtbar im Umgang mit Migranten, in der Sprache, in dem Austausch miteinander.

Der Sprache?

Sprache ist nicht nur ein Instrument zur Verständigung, sondern auch zur Stigmatisierung. Sprache kann fürchterlich wehtun, schlimmer als ein Schlag. Sie kann demütigen und ist die subtilste Waffe, die es gibt. Mein Vater versteht alles, er hört alles und sieht, dass die Demütigungen nie aufhören.

Ist es nicht schmerzhaft, die Eltern entwurzelt und ungewollt zu sehen?

Wenn ich diesen Schmerz nicht hätte, würde ich keine Bücher schreiben, dann könnte ich ganz vieles nicht. Dann wäre ich vielleicht nie Schauspielerin geworden. Meine Aufgabe ist es als Künstlerin, die Dinge, die ich spüre, sichtbar zu machen. Mir steht das Spiel zur Verfügung, die Darstellung und die Sprache, dass Selbstgeschriebene, dass Selbsterdachte. Also nutze ich beides, um diese Schmerzen sichtbar zu machen.

Dabei werden Sie stets dazu aufgefordert, immer Stellung zu beziehen.

Ja, ich habe und konnte mich auch nie so verweigern, wie viele meiner Kolleginnen türkischer Herkunft das heute machen. Ich finde das sogar richtig gut. Irgendwann muss diese ständige Rechtfertigung auch mal aufhören.

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