piwik no script img

Interview Schulpraktikerin Thoms"Keiner weiß, was Inklusion ist"

Eva Thoms organisiert "Eine Schule für Alle" - und ärgert sich über Politikersprechblasen. Tatsächlich würde von der Politik alles getan, um möglichst gar nichts ändern zu müssen.

Gemeinsames Lernen - da wird viel drüber geredet, wenig getan. Bild: Photocase
Interview von Christian Füller

taz: Frau Thoms, Sie veranstalten nach 2007 erneut einen großen Kongress "Eine Schule für Alle". Warum das - die Bundesländer sind doch offen für gemeinsames Lernen?

Eva-Maria Thoms: Ich fürchte, wir brauchen noch viele Kongresse dieser Art. Zwar können Politiker das Wort Inklusion inzwischen fehlerfrei aussprechen. Aber ich zweifle, dass sie tatsächlich ein inklusives Bildungssystem wollen.

Was ist der Unterschied zwischen gemeinsamem Lernen und Inklusion?

Eva-Maria Thoms

gehört Mittendrin e. V. an, der sich um die Integration behinderter Kinder kümmert. Thoms ist Mitinitiatorin von "Eine Schule für Alle".

Inklusion würde heißen: Wir verabschieden uns von der Konstruktion des "Regelkindes", das in der Gruppe im Gleichschritt unterrichtet wird. Wir sehen jetzt jedes Kind als Individuum und als Bereicherung. Jedes Kind, ob mit oder ohne Behinderung, hat andere Talente und lernt in einem anderen Tempo. Bislang empfinden Schulen Kinder mit Behinderung als Belastung, weil man für sie ein Sonderprogramm fahren muss.

Sind die Schulen denn schon so weit?

Nein, in den Schulen wiederum ist die ganze Diskussion noch gar nicht angekommen. Die meisten Lehrer ahnen nicht, dass sie schon bald Kinder und Jugendliche mit Behinderung in ihren Klassen vorfinden werden. Und sie wissen schon gar nicht, wie in einer Klasse mit so unterschiedlichen Schülern der Unterricht ablaufen soll. Es fehlt an Fortbildungen - der beste Beweis, dass die Länderregierungen vor allem Wortgeklingel von sich geben.

Aber Sie können nicht abstreiten, dass verschiedene Landesregierungen etwas dafür unternehmen.

Rhetorisch vielleicht. Nehmen Sie die Landesregierung in Düsseldorf: Ein Dreivierteljahr lang war die UN-Konvention …

über die Rechte behinderter Menschen, die fordert Sonderschulen aufzulösen …

… genau diese Konvention war im Haus von Schulministerin Barbara Sommer so etwas wie ein Tabu. Der Landtag diskutierte das Thema rauf und runter - die Ministerin schwieg. Im Herbst kam urplötzlich der Richtungswechsel, die neue Lieblingsformel war ein sogenanntes Elternwahlrecht. Aber seit mehr als einem Jahr hat das Ministerium kein einziges Papier vorgelegt, wie der Wechsel zu einem inklusiven Bildungssystem im Gesetz und im Haushalt aussehen soll. Es ist nichts passiert. Gar nichts. Gleichzeitig wird es wieder Zwangszuweisungen zu Sonderschulen geben. Es werden sogar neue Sonderschulen gebaut.

Warum tun die das?

Ich erkläre mir das als Versuch, sich vor der Landtagswahl im Mai das Thema nicht aus der Hand nehmen zu lassen.

Baden-Württemberg hat ein Elternwahlrecht eingeführt. Und selbst der Chef der Kultusminister, Ludwig Spaenle, will die Inklusion zum Thema seiner Präsidentschaft.

Das ist substanzlose Rhetorik. Da wird die Fahne der Inklusion gehisst, um gute Schlagzeilen zu haben. Tatsächlich wird alles getan, um möglichst gar nichts ändern zu müssen. Den Eltern in Baden-Württemberg werden - für jedes einzelne Kind mit Behinderung - sogenannte Bildungswegekonferenzen vor die Nase gesetzt, in denen Experten und Verwaltungsleute beraten, wo das Kind zur Schule gehen soll. Unter deren Vorschlägen dürfen die Eltern dann wählen - wenn keine Regelschule dabei ist, dann haben sie eben Pech gehabt. Da wird Inklusion mit einem unglaublichen bürokratischen Aufwand verhindert.

Und Spaenle?

Der hat sich seinen ganz eigenen Begriff von Inklusion geschaffen: die bayerischen Außen- und Kooperationsklassen. Er will die bayerischen Schulen mit Behindertenklassen überziehen, die getrennt von den Regelkindern lernen. Das gibt eine prima Statistik, aber mit einem gleichberechtigten Zugang zu allgemeiner Bildung, wie ihn die UN fordern, hat das nichts zu tun.

Wie schnell kann man Schulen umbauen?

Ich würde vorschlagen, das Jahrgang für Jahrgang zu machen.

Was soll mit den sogenannten Förderschulen geschehen?

Der Aufbau eines inklusiven Bildungssystems ist ein Prozess. Wenn die Schulen wirklich inklusiv sind, wird sich niemand mehr nach den Sonderschulen zurücksehnen. Ich habe damit angefangen, um das Recht auf Selbstbestimmung für meine eigene Familie zu kämpfen. Von daher tue ich mich schwer, andere Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Eins ist aber klar: In den Regelschulen, wie sie heute sind, sind seltene und schwierige Förderbedürfnisse nur durch einen unaufhörlichen Kampf der Eltern durchsetzbar. Die Menschen ahnen gar nicht, wie viel Kraft das kosten kann, sein Kind in die Schule zu bringen!

Wie wollen sie verhindern, dass die Länder Inklusion als Sparmodell nutzen?

Durch öffentlichen und politischen Druck. Ich würde mir wünschen, dass wir dabei auch auf die Unterstützung der Sonderschuleltern und der Normalo-Eltern rechnen könnten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • WW
    Wolfgang Winkler

    Man kann auch ein gut funktionierendes System zerschlagen ohne ein Bessere zu haben.

  • G
    Green

    Jaja, es gibt hundert Gründe, weswegen Inklusion ein Problem sein könnte. Aber macht es nicht Sinn mal Inklusion umzusetzen?!

    Schon in der Vergangenheit sind die Menschen mit den Hürden umgegangen und gewachsen. Man sollte den Eltern, Kindern und Schulen einfach mal eine Basis bieten und nun mal anfangen mit der konkreten Umsetzung.

    Ich stimme zwar Rokeby zu, dass die breite Masse der deutschen Bevölkerung über die Diversen Behinderungen nicht aufgeklärt ist aber dann sollte man Inklusion zu einem greifbaren Thema machen. Die Zeit der Lippen-Bekenntnisse ist vorbei.

  • S
    Simon

    Toll, dass hier Kommentare einfach mal nicht hochgeladen werden. (Kommentar von vorgestern)

  • DH
    Dr. Harald Wenk

    @von Simon

    Ich kann gar nicht glauben, dass sie ihre völlig unberechtigte, aus der Luft gegriffene Kritik ernst meinen.

    Inklusion heißtchon Einschließung, inclusive hhheißtieinschließlichclusiv aussausschließlich

    Klaustrophobie ist die Angst vor geschlossenen Räumen und die Klausur ist die abgeschlossene Kammer im Kloster, Clusa ist ein anderes Wort für clausa. Clausa heißt Schluss, wie in Klausel.

    Können Sie im Lateinwörterbuch nachschlagen.

    Iclusive or ist das einschließende oder, exclusive or das ausschliessende oder, nämlich entweder oder.

    Integration ist in der politisch soziologischen Debatte für größere Gruppe, meist Ethnien vorgesehen und die Integration umfasst die gesamte Gesellschaft. Dementsprechend ist der gesetzliche Handlungsbedarf und die Diskussion ein Dauerbrenner.

    Hawking mit seiner selten Form von MS im Rollstuhl gilt zweifelsohne als Körperbehindert, wie ich schon schrieb, da er sich nur per Computer sprachlich verständlich machen kann, wäre ein kleiner Hawking in der Schule ein Inklusionsfall. Er ist trotzdem selbstverständlich einer unsrer intelligentesten Zeitgenossen.

  • T
    thomas

    Hallo, für alle, die sich für die Zustände in Blindeneinrichtungen interessieren, hier ein Artikel dazu:

    http://jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/497796

    Der Autor nennt das Kind bei Namen, Integration light.

  • MS
    Mona Schnackenburg

    Ich denke, dass man nicht zu schnell damit bei der Hand sein sollte, Förderschulen abzuschaffen. Ein Recht auf Integration ist aus meiner Sicht wichtig. Aber genauso wichtig wäre für mich die Möglichkeit, Schutz und spezielle Fördermöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Warum keine Wahlfreiheit?

  • S
    Simon

    @ Dr. Harald Wenk:

    Ihr Kommentar zeigt, wie zutreffend die Überschrift des Artikels ist.

    Inklusion kann wenn dann mit "Einbeziehung" ins Deutsche übersetzt werden, wobei sich der Begriff "Inklusion" sogar in Dtl. schon seit einigen Jahren - wenn auch leider uneinheitlich gebraucht - etabliert hat.

    Auch Ihr Verständnis von "Integration" ist etwas merkwürdig. Zwar stimmt es, dass hier noch stärker "Schubladendenken" vorhanden ist als in einer inklusiven Bildungskultur, aber eben gerade, DAMIT der einzelne - und ganz besonders die SchülerInnen mit besonderem Bedarf - NICHT untergeht.

    Was Stephen Hawking jetzt mit Inklusiver Schule zu tun haben soll, erschließt sich mir auch nicht ganz...

  • DH
    Dr. Harald Wenk

    Inklusion heißt Einschließung, mit Schulpflicht und Schulgebäude haben wir eine Trippelbedeutung.

    Fabrik, Gefängnis, Klinik, Schule, Büro sind alles Einschließungsorte mit entsprechenden Dressuranforderungen an die Eingeschlossenen.

    Der Unterschied zwischen Inklusion und Integration

    ist, dass der Einzelne bei der Integration erheblich mehr untergeht. Da werden auch gleich ganze Minoritäten integriert.

    Seit Stephen Hawking steten geistige Höchstleistungen und Körperbehinderung im Verhältnis der Inklusion.

    Eine wirkliche Inklusion der Behinderten könnte für die Notwendigkeit der Änderung der Praxis der Dressur durch Drohung mit schlechten Noten führen.

    Diese Pädagogik ist unter anderem ein Effekt der großen Klassenstärken und der Zufallsauswahl der Schüler.

    So wünschenswert diese Änderung wäre, sehe ich große Blockaden und wenig Aufbruch, wie im Artikel selbst.

  • MG
    Miriam Geoghegan

    Frau Thoms, falls Sie mitlesen, hier ein Best-Practice-Beispiel aus meiner irischen Heimat. Sheera ist die Tochter einer Freundin meiner Schwester. Sie besuchte eine ganz normale Grundschule in Dublin, und ihre jetzige Schule Santa Sabina, ist eine ganz normale Sekundarschule. Sheera stehen eine "Special Needs Assistant" (SNA), eine Tutorin sowie "Learning Support Teachers" zur Seite. Wo ein Wille ist...

     

    http://www.fedvol.ie/_fileupload/Education/Plenary%20Session%203%20-%20Pupil%20&%20Teacher.pdf

  • R
    Rokeby

    "...über die Rechte behinderter Menschen, die fordert Sonderschulen aufzulösen …"

     

    Ich möchte Euch sicher aufmerksam machen, dass es mit der Wortbetonung "Behinderung" sehr vorsichtig umgehen soll.

    Das allein unter Behinderung heißt es jedoch nicht, dass alle Kinder mit Behinderung in der Inklusion aufgenommen werden.

     

    Siehe einen Fall, z.B. Gehörlosen. Da Gehörlosen im Sinne nicht in der behinderten "Inklusion"-Gruppe angehören, vor allem wegen der deutschen Gebärdensprache, haben sie sogar laut UN-Behindertenkonvention Recht auf "Gehörlosenschule", die eine bilinguale Sprache ermöglicht.

    Gebärdensprachdolmetscher reicht es nicht aus und scheitert sogar oft daran an Gehörlosenkultur und gemeinsames Austausch unter Schülern.

     

    Daher sollte man eher etwas anders ausführlich erklärt werden, dass Gehörlosen in einer "Inklusion"-Schule kommen können, aber unter einer Bedingung, dass sie nur in einer gehörlosen Klasse unterbringen werden, solange die Fächer auf Deutsche bzw. Nichtdeutsche Gebärdensprache angewiesen sind.

    Ich denke, bei Sport, Hauswirtschaft, Kunst können sie ja alle "inklusiotienieren".

     

    Ein weiterer Fall ist für Taubblinden gedacht. Es ist für sie unmöglich in einer solchen Schule inklusiotienieren. (Weiß nicht ob es so ein Verb richtig bzw. überhaupt ist/gibt, aber ihr wisst was ich meine)

     

    Unter Blinden, Geistigbehinderten, usw, muss man auch auf soziale, konkretive, emotionale Entwicklung berücksichtigen, ob es sinnvoll ist, sie mit in der Inklusion zu beziehen.

    Aber im Sinne können sie alle "Deutsche Lautsprache" verwenden und können theoretisch in der inklusiotierten Schule kommen. Wie im Praxis aussieht, sollen Sie am besten Blinden, Geistigbehinderten danachfragen.

     

    Es fehlt allein die Aufklärung an die Gesellschaft, die sich über Gehörlosen, Blinden, Taubblinden, usw. informiert werden soll.

  • V
    vantast

    Schon erstaunlich, wie verbissen die Oberschicht die Unterschicht durch ihr drittklassiges Schulsystem beibehalten will. Dabei sägt sie am eigenen Ast, wenn sie die berufliche Entwicklung der jungen Leute nach Kräften verhindert. Diese Mißgunst schadet der ganzen Gesellschaft, aber das hat die Konservativen ja nie interessiert, weil es ihnen immer gut ging.