Internationales Tanzfestival in Berlin: Tanzwut und Lebensfreude
Jetzt geht's ums Ganze – das spiegeln viele Stücke beim Festival Tanz im August in Berlin. Dabei stehen auch weniger heitere Themen im Fokus.
Die Schüsse, woher sie kommen, weiß man nicht. Mit einem akustischen Knall fegen sie durch das zweite Klavierkonzert von Rachmaninow und von den Tanzenden auf der Bühne im Haus der Berliner Festspiele sinkt einer nach dem anderen langsam zu Boden.
Zuvor schon sah man sie laufen und fliehen, sich wegducken und hilfesuchend zusammenballen, als wären sie einer Verfolgung ausgesetzt. Die Bewegungen der in blaue Anzüge gekleideten Gruppe, die so an eine anonyme Arbeiterschar erinnern, beginnen sehnsuchtsvoll.
Sie strecken sich, reichen in die Höhe, recken auch schon mal die geballte Faust in den Himmel. Man sieht, wie der Atem die Brust hebt, man ahnt das Verlangen herauszukommen aus einer wie auch immer gearteten Unterdrückung und den Wunsch den Aufstand zu proben. Aber in dem Tanzstück „Navy Blue“ von der irischen Choreografin Oona Doherty bleibt die Macht, der sie Widerstand leisten wollen, stärker.
Das Pathos in „Navy Blue“ ist ein Element, das man von Oona Doherty so noch nicht kannte. Ihre neue Choreografie, mit ihren weichen Bewegungen in ein blaues, melancholisches Licht getaucht, erinnert erstaunlicherweise an das Tanztheater von Pina Bausch oder, noch weiter zurück, an klassenkämpferische Skizzen im Ausdruckstanz der frühen Moderne.
Von vergeblichem Kampf erzählen
Das liegt zum einen an den schlicht geschnittenen blauen Anzügen, in die ihre Tänzerinnen und Tänzer gewandet sind, aber mehr noch an der Komposition ihrer Reihen, wenn sie sich an den Händen fassen oder auf den Knien liegend am Boden pantomimisch arbeiten. Vor allem aber an der emotionalen Ausdrucksstärke der Gesten, die von einem vergeblichen Kampf erzählen.
Im zweiten Teil des Stücks, nach dem Klavierkonzert, folgt ein dunkles Soundscape von Jamie xx, über dem Oona Dohertys irische Stimme mit einem langen Text zu hören, aber leider akustisch nicht besonders gut zu verstehen ist. Sie schlägt in diesem Text einen Ton der Demut, des Zweifels, des Staunens an. „Danke, dass du mich gelehrt hast, unbedeutend zu sein.“ Sie fragt nach dem Sinn der Kunst angesichts einer Geschichte, die immer mehr von Verbrechen, die aufgezählt werden, bestimmt ist.
Es ist eine Skizze der Verzweiflung, sicher auch angeregt durch die kleine Tochter, die die Choreografin während der Arbeit an dem Stück bekam und dem Nachdenken über all die Unsicherheiten, die deren Zukunft bestimmen werden. Fast ist die dunkle Botschaft dieser langen Sprachnachricht zu schwer für die Schultern des Tanzstücks.
Doch trotz dieses Mangels gehört „Navy Blue“ zu den Höhepunkten des diesjährigen Festivals Tanz im August in Berlin. Es läuft diesmal länger (noch bis 27. August) und mit einem volleren Programm – 22 Produktionen und eine Retrospektive von Cristina Caprioli – als in den meisten Jahren, weil einige Stücke, die 2020 und 2021 eingeladen waren und pandemiebedingt nicht kommen konnten, sich erst jetzt als Gastspiel realisieren ließen.
Sprache der Tänzerinnen
Dass Sprache und Text als Bedeutungsträger zum Tanz hinzukommen, ließ sich in vielen Aufführungen sehen.
In „Sonoma“ vom spanischen Choreografen Marcos Morau und seinem Ensemble La Veronal umfassten die Textblöcke, von den Tänzerinnen gesprochen, mehrere Jahrhunderte und auch hier steuerten die Zeilen, in Form von Seligsprechungen, die immer absurder wurden, oder als Gebote, auf ein finsteres Ende zu, das es mit uns Menschen nehmen wird. Die großen Trommeln, die die Tänzerinnen am Ende schlagen, läuten gewissermaßen die Apokalypse ein.
Die Bilder des Tanzstücks und seine Musik aus Chören, Dudelsack und ekstatisch getrommelten Rhythmen waren indes uneindeutiger, offener, skurriler, verspielter. Marcos Morau ist ein Surrealist, der mit vielen Referenzen an die Geschichte der Kunst und des Kinos arbeitet.
Die Kostüme zitieren verschiedene Epochen und deren strenge soziale Ordnungen, das Bühnenbild kokettiert mit einem katholischen Überbau und einem Filmsetting. Manchmal wirken die Tänzerinnen wie aufgezogene Automaten, die auf Rollen laufen, dann wie spukhafte Hexen ohne Gesicht.
Etwas Rausch und Ekstase
Ihre Bewegungssprache verweist auch auf den Flamenco, aber so scharf zerhackt, dass es einer Hinrichtung gleicht. Die Gedanken heften sich beim Zuschauen an dies und jenes, driften durch opulente Gefielde, der eigene Puls scheint sich im Rhythmus der Percussion zu beschleunigen – und das will man ja schließlich auch vom Tanz, etwas Rausch und Ekstase. Die dann durch die sprachliche Botschaft wieder ganz schön gedämpft werden.
Nicht immer waren die Publikumssäle wie bei früheren Ausgaben des Festivals voll besetzt, eine Folge der Pandemieerfahrungen. Aber die Leute, die gekommen waren, zeigten bei allen von mir in diesem Jahr besuchten Vorstellungen am Ende große Begeisterung, als wollten sie für die Fehlenden unbedingt mitapplaudieren.
Zwei Inszenierungen brauchten auch das Publikum als Partner. und eine davon, „The Dancing Public“, ein Solo von Mette Ingvartsen, beschäftigte sich mit Tanzwut, Rausch und der Sehnsucht nach Ekstase. Die Sophiensæle waren dafür leergeräumt, das Publikum stand bei wenig Licht zwischen drei kleineren Podesten, Techno erzeugte Partystimmung.
Mette Ingvartsen tanzte die meiste Zeit mitten zwischen den Leuten, die sich teils auch mit ihr in Bewegung setzten. Die athletische Performerin schleuderte dabei aber nicht nur ihre langen Glieder und Haare, sondern sprach auch über Mikroport, allerdings war der englische Text akustisch wieder nur teilweise zu verstehen, ein technisches und vor allem ein dramaturgisches Problem.
Etwas zu sehr Behauptung
Denn natürlich wäre es wichtig, Ingvartsen bei ihren Passagen durch die Tanzwut im Mittelalter, Erzählungen von Tanz als Abwehr der Pest, Legenden von ansteckenden Tänzen und Szenen aus den Tanzmarathons in der Zeit der Depression in den USA folgen zu können. So kriegt man nur Stichworte mit. Deshalb bleibt das Zusammenspiel von Performance und theoretischer Erkundung doch etwas zu sehr Behauptung.
Viel erzählt wurde auch in dem Stück „We wear our wheels with pride …“, das in der Volksbühne seine Deutschlandpremiere feierte. Schilder mit dem Spruch „where is goethe“ hielten die schwarzen Performer:innen von Moving into dance Mophatong, einer Tanzschule aus Johannesburg, am Anfang ins Publikum. Es dauerte, bis wir verstanden, dass damit wir gemeint waren, die Zuschauergruppe im Berliner Theater.
Die sich etwas schwerfällig erst zum Mitsummen animieren ließ und später zum Schwingen des Körper vor und zurück. Vor und zurück, das brauchten sie als Unterstützung für ihre Hommage an die Zulu-Rikschafahrer, an die sich die Choreografin Robyn Orlin aus ihrer Kindheit erinnert. 1955 als Tochter jüdischer Migranten geboren, wuchs sie in Johannesburg auf, lebt inzwischen aber seit zwanzig Jahren in Berlin und bearbeitet jetzt Bilder der Vergangenheit.
Traditionen der Zulus
Die Farben der Performance, aufgefächert in Videos, die Stoffe der Kostüme, die gehörnten Tiermasken im Häkellook, die Tänze und die großartige Musik, die live performt wird, docken an Traditionen der Zulus an, denn die stellten die Rikschafahrer, die, wie man am Ende in einem alten Foto sieht, tatsächlich mit großen Masken und schweren Kostümen die Rikschas zogen, in denen meist Weiße saßen.
Dass sie nie älter als 35 Jahre alt wurden, steht als Satz daneben: Und so lernt man, dass die lebendig und fröhlich wirkende Performance, die man gerade sah, von einer schweren körperlichen Arbeit erzählte, von Ausbeutung unter den Bedingungen der Apartheid.
Aber während das Spiel läuft, ist es eben das, ein Spiel. Mit fantastischen Geschichten laden die Rikschafahrer ein, sie versprechen eine Reise in den Himmel. In sieben Auftritten, sieben Porträts, präsentieren sie sich, die Farben ihrer Kostüme, die gehörnten Masken, die sie zu kunstvollen, stolzen und gewitzten Wesen zwischen Tier, Mensch und Gottheit machen. Ihre Tänze sind ein Vorgriff auf die Wettbewerbe und Selbstermächtigungsgesten im Urban Dance.
Die Sängerin Anelisa Stuurman und der Musiker Yogin Sullaphen breiten ihnen dafür eine Musik aus, in der galoppierende Hufe und das Schnauben von Pferden ebenso gegenwärtig sind wie Elemente einer anstrengenden Gegenwart.
Für die Kuratorin Virve Sutinen, die das Festival neun Jahre geleitet hat, ist es ihre letzte Ausgabe, und die ist ihr sehr prächtig geraten.
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