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Integrationsgipfel II"Wir stehen doch seit 1961 vor der Tür"

Mit Verständnis und Bedauern reagieren Berliner Deutschtürken auf den Boykott des Integrationsgipfels durch die türkischen Verbände.

Deutschtürken auf dem Weg zur Mitte der Gesellschaft. Bild: dpa

"Türkisches Ultimatum an Merkel", titelte die konservative Tageszeitung Hürriyet in ihrer gestrigen Deutschland-Ausgabe, "Berlin in Aufruhr" lautete die Schlagzeile bei der liberalen Konkurrenz von Milliyet. Im Berliner Stadtteil Kreuzberg ist von einem "Aufruhr" allerdings nichts zu spüren, es ist eher ruhiger als sonst. Schließlich haben die Ferien begonnen, und zahlreiche Kreuzberger Türkinnen und Türken sind bereits im Urlaub. Doch viele, längst nicht alle Daheimgebliebenen verfolgen den Streit um den Integrationsgipfel.

Zum Beispiel Ismail Karayüz. Der Cafébesitzer hat die Zeitungen gelesen. Dass die türkischen Verbände sich nicht am Integrationsgipfel beteiligen, findet er "sehr richtig". Dabei hat Karayüz nichts gegen die verschärften Regelungen des Zuwanderungsgesetzes einzuwenden, die der Grund für den gegenwärtigen Konflikt sind. "Wer herkommen will, soll erst mal die Sprache lernen", sagt Karayüz, der seit 1969 hier lebt. Man dürfe aber keine Gesetze machen, die nur für eine Minderheit gelten. Dass die türkischen Verbände die Bundesregierung umstimmen können, glaubt er nicht. Dazu hätten sie zu wenig Einfluss. "Wir stehen doch schon seit 1961 vor der Tür", sagt er.

Der aus der Türkei eingewanderte Zeitungshändler am Kottbusser Damm hat ebenfalls Verständnis für den Ausstieg der türkischen Verbände. Dennoch bedauert er die Sache: "Wenn ich jemandem meine Meinung sagen will, muss ich hingehen." Er bezweifelt, dass der Protest durch Wegbleiben funktioniert. "Doch", widerspricht ihm auf Türkisch ein Kunde: Man könne draußen bleiben und protestieren - "Dann muss man eben besonders laut sprechen!"

"Die da oben machen ja doch, was sie wollen", meint hingegen resigniert der junge Besitzer eines Juwelierladens am Kottbusser Damm. Der Geschäftsmann türkischaramäischer Herkunft ist deutscher Staatsbürger. Sein Betrieb lasse ihm nicht viel Zeit zum Zeitunglesen, erzählt er. Zudem sei Politik für ihn mit der großen Koalition komplett unglaubwürdig geworden: "Erst haben sie sich bekämpft, jetzt ziehen sie an einem Strang." Deshalb bezweifelt er, dass ein Integrationsgipfel überhaupt Sinn hat: "Der kleine Mann kann wenig bewirken" - und Ausländer hätten noch weniger Mitspracherecht. Auch er hat für die Verschärfung des Zuwanderungsgesetzes Verständnis. Doch es sei unfair, Minderheiten ungleich zu behandeln.

"Avrupa bizi sevmiyor - Europa liebt uns nicht", sagt ein paar Geschäfte weiter eine Mitarbeiterin, die dort gerade die mit Nüssen und getrockneten Früchten gefüllten Glasvitrinen poliert. Die 37-Jährige ist erst vor einem Jahr aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Es falle ihr schwer, sich einzugewöhnen, erzählt sie: "Für mich wäre es besser, zurückzukehren." Für hier geborene Türkischstämmige sei es aber anders: "Deutschland kann die hier Aufgewachsenen nicht so schlecht behandeln!" Deshalb findet sie den Ausstieg der türkischen Teilnehmer aus dem Gipfel richtig. "Aber sie werden ja doch zurückkehren müssen."

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