Integration: "Ich bin keine Ausnahme"
Zu Hause wurde nur Türkisch gesprochen, sie selbst besuchte die Hauptschule. Die Autorin Hatice Akyün ist einer der Stars bei den Neuköllner Lesewochen. Ihre Geschichte soll Migranten Mut machen. Interview von Alke Wierth
taz: Frau Akyün, Sie sind in Duisburg aufgewachsen und leben in Hamburg - was verschlägt Sie zu einer Lesung nach Neukölln?
HATICE AKYÜN, 39, ist freie Journalistin und deutsch-türkische Schriftstellerin. Ihr erstes Buch "Einmal Hans mit scharfer Soße" erschien 2005 im Goldmann Verlag.
Zum zweiten Mal finden ab dem 18. Mai die Neuköllner "Wochen der Sprache und des Lesens" statt. Mit über 400 Veranstaltungen in Cafés, Schulen, auf U-Bahnhöfen und auf Märkten sollen Erwachsene und Kinder zum Zuhören und Selberlesen angeregt werden. Zu den Stars unter den VorleserInnen gehören die deutsch-türkische Autorin Hatice Akyün, der Berliner Jugendbuchautor Zoran Drvenkar, Meli Kiyak, Fahimeh Farsai, Monika Marton, Zafer Senocak oder Horst Bosetzky. Initiator der Lesewoche ist der Psychologe Kazim Erdogan, hauptamtlich tätig beim Psychosozialen Dienst des Bezirks. Mit einem Rekord sollen die Lesewochen am 1. Juni zu Ende gehen: Aus über 100 in Neukölln gesprochenen Sprachen soll an diesem Tag im Schulenburg-Park gelesen werden. MitleserInnen werden noch gesucht. Mehr Infos im Internet unter www.sprachwoche- neukoelln.de.
Hatice Akyün: Ich habe zehn Jahre in Berlin gelebt und mein Herz ist immer noch hier. Neukölln ist mir besonders nahe - es erinnert mich an den Ort, wo ich meine Kindheit verbracht habe: In Duisburg-Marxloh, dem Neukölln des Ruhrgebiets. Beides sind Problembezirke mit Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Schulklassen, in denen kein deutsches Kind mehr sitzt. Eigentlich hätte meine Integration misslingen müssen.
Warum?
Weil ich genau in einem solchen Problembezirk aufgewachsen bin. Ich habe die Hauptschule besucht - so wie es damals und heute immer noch fast alle Migrantenkinder getan haben. Meine Eltern sind beide Analphabeten. Sie haben ihre sechs Kinder immer mit Blick auf eine Rückkehr in die Türkei, also sehr klassisch türkisch und konservativ, erzogen. Sie haben versucht, uns unsere Kultur, unsere Religion zu bewahren, indem sie uns in die Koranschule geschickt haben, indem zu Hause nur Türkisch gesprochen und nur türkisches Essen gegessen wurde. Aber ich habe trotzdem Deutsch gelernt.
Wie haben Sie das geschafft?
Zum Beispiel mit Hilfe meines Büchereiausweises - ich habe gelesen. Und mir haben meine deutschen Freundinnen und deren Familien viel geholfen. Aber ich bin ja keine Ausnahme. Es gibt viele wie mich, die es trotz solcher Ausgangsbedingungen schaffen. Leider wird mehr über die negativen Beispiele geredet.
Was hat Ihnen Lesen als Kind bedeutet?
Lesen war für mich eine absolut neue Welt, eine Welt, die ich bis dahin nicht kannte.
Was haben Sie gelesen?
Zum Beispiel die Bücher über "Hanni und Nanni", zwei Schwestern, die in einem Internat leben. Bis dahin wusste ich nicht einmal, was ein Internat ist. Bei uns wurde nur Türkisch gesprochen, und auch dabei gab es nur einen bestimmten eingeschränkten Wortschatz. Wörter wie Internat, aber auch Lebensverhältnisse, in denen Kinder Reitunterricht haben -, das gab es bei uns nicht. Da herrschte eine andere Atmosphäre. Aber es waren nicht nur Bücher: Auch bei meinen deutschen Freundinnen zu Hause war das Leben ganz anders.
Wie kamen Sie mit diesen verschiedenen Welten klar?
Als Kind habe ich mich komisch gefühlt. Ich dachte, meine Familie ist sonderbar. Meine Mutter trägt Kopftuch, wir essen andere Sachen, wir sprechen anders, wir riechen anders, wir sehen anders aus. Ich habe das als schlimm empfunden. Aber im Laufe des Erwachsenwerdens habe ich gemerkt, dass es ein Segen ist, dass ich diese zwei Sprachen spreche, in zwei Kulturen aufgewachsen bin und dass es ein Fehler gewesen wäre, sich in eine der beiden Welten zurückzuziehen.
Wie haben Ihre Eltern auf Ihre Entwicklung reagiert?
Zunächst mit Angst, Angst davor, dass ihre Kinder deutsch werden. Das hat mit der Bildungsarmut meiner Eltern zu tun. Sie hatten ebenso ein falsches Bild von den Deutschen, wie viele Deutsche ein falsches Bild von den Türken haben. Wenn meine Eltern die Sprache gelernt hätten, wenn sie einfach mal zu ihren deutschen Nachbarn gegangen wären und Hallo gesagt hätten, dann hätten sie gemerkt, dass vieles gar nicht so schlimm ist wie in ihren Vorstellungen.
Viele Neuköllner Kinder haben kaum noch Kontakt zu Deutschen.
Diese Kinder gehen ja in die Schule. Dort müssen sie Deutsch lernen. Es ist die Pflicht der Eltern, das zu unterstützen. Ich war selbst erst auf einer Hauptschule. Meine Lehrerin ist irgendwann zu uns nach Hause gekommen, um meinem Vater zu erklären, dass ich mehr kann - sie hat ihm das mit Händen und Füßen erklärt, denn er konnte ja kein Deutsch. Ich finde es toll, wenn eine Klasse sich entscheidet, in der Schule nur Deutsch zu sprechen. Indem ich Deutsch spreche, gebe ich ja nicht meine Identität ab. Es geht darum, dass ich die Sprache erlerne, damit ich die Chance auf eine Ausbildung bekomme. Das muss in die Köpfe der Eltern.
Und kommt es an?
Ich wundere mich immer wieder, wenn ich türkische Mütter in meinem Alter treffe, die die gleichen Fehler machen wie meine Eltern. Das macht mich wütend. Es liegt aber daran, dass sie andere Lebenserfahrungen haben als ich, dass sie ihren Horizont nicht so erweitern konnten. Viele machen aus Unwissenheit Fehler - manche auch aus Böswilligkeit, weil sie sagen: Mit den Deutschen wollen wir nichts zu tun haben. Da muss die Schule, der Staat eingreifen und dafür sorgen, dass diese Kinder Deutsch lernen und sich von ihren Eltern abnabeln können. Sonst wird sich das alles immer wiederholen. Und das ist falsch.
Darum geht es auch in Ihrem neuen Buch?
Ja. Es geht um meine Erfahrungen als Tochter und Mutter. Ich möchte meine Tochter unbedingt zweisprachig und auch bikulturell erziehen, weil ich das für einen Reichtum halte. Aber manche Traditionen muss man über Bord werfen. Nicht, weil sie nicht nach Deutschland oder nach Berlin passen: Sie passen nicht mehr in unsere Welt. Die verändert sich eben. Mein Vater, einst ein sehr traditioneller Vater, sagt heute zu seiner Enkeltochter, sie sollten alle wie Tante Hatice werden: Abitur machen und einen Beruf haben. Das zeigt doch, dass Menschen sich ändern können.
Das Thema liegt Ihnen offenbar sehr am Herzen.
Ja, da werde ich richtig resolut - weil ich weiß, dass es funktioniert. Es geht darum, Vorurteile abbauen zu können. Das kann man nur tun, indem man miteinander redet. Dazu muss man eine gemeinsame Sprache sprechen. Und da wir in Deutschland leben, ist das eben die deutsche.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen