Integration: Multikulti vor der Sprechzimmertür
Beim Bauchspiegeln
Magenspiegelungen sollen nicht schlimm sein. Überhaupt nicht schlimm. Gut, ein wenig unangenehm, das schon. Aber schlimm, nein, schlimm auf gar keinen Fall. Von Schlauchschlucken ist die Rede. Ich soll das jetzt mal machen lassen. Wegen meinem Kloß im Hals.
Meine Freundin, die Neurologin und Psychiaterin, die neulich zu Besuch war, bekam leuchtende Augen, als sie vom Kloß im Hals hörte. "Das ist psychisch", ruft sie. "Bist du unglücklich? Trittst du auf der Stelle? Schiebst du einen Berg vor dir her?" Und ohne eine Antwort abzuwarten: "Du hast doch geschrieben, dass du auf der Stelle trittst." Sie ist eine von den Neurologinnen, zu denen ich niemals ginge. Aber das bleibt unter uns.
Ich halte es erst mal noch mit dem Körper. Keine Therapie, eine Magenspiegelung solls sein, da wird die Speiseröhre gleich mit inspiziert. Andere fahren zum Nordpol, ich fahre zum Leopoldplatz in eine Praxis, die von zwei Brüdern geführt wird. Der eine heißt Enno und der andere Keno. Ich nehme mir vor zu fragen, ob sie Zwillinge sind.
An dieser Stelle überspringe ich das Wartezimmer. Es ist voll. Wie am Fließband werden Namen aufgerufen. Nur eine Frau sitzt ganz bleich im Stuhl, flankiert von einer Begleiterin. Sie kommt in diesem Text noch einmal vor. Die zwei sprechen jugoslawisch miteinander, das nicht mehr so heißt, obwohl der Unterschied zwischen Serbisch und Kroatisch lächerlich ist. Die Frau, die so schlimm dran ist, wird vor mir aufgerufen. Als ich kurz danach selbst zum Sprechzimmer gehe, hängt sie windschief in einem Stuhl vor der Tür des Arztes. Ihre dunkelhaarige Begleiterin lächelt mir freundlich zu. Drinnen will der Doktor wissen, ob ich eine lokale Betäubung will oder eine, die auch die Sinne vernebelt. Außerdem verspricht er, dass die Prozedur nicht länger als zwei Minuten währt.
Widerstandslos gleitet der Schlauch in den mit einem Spray betäubten Schlund. Der überrumpelte Körper bäumt sich würgend auf. "Das ist normal" sagt jemand im Hintergrund. Die warme Hand auf dem Gesicht spendet Trost. Ich versuche bis hundert zu zählen. Schon bei 13 sagt der Arzt: "Fertig." Ich konnte mich beim Zählen nicht konzentrieren, daher die niedrige Zahl.
Etwas unsicher schleiche ich zu den Stühlen vor dem Sprechzimmer, wo ich warten soll. Die windschief sitzende Frau und ihre Begleiterin sind noch da. "Geht es?" fragt die Begleiterin. "Es geht", antworte ich. "Haben Sie ein lokale Betäubung bekommen oder eine richtige?", will sie sogleich wissen, nur um wortreich zu erklären, dass ihre Bekannte sich richtig betäuben ließ. Deshalb sei ihr nun schlecht. Währenddessen gehen eine junge und eine ältere Frau, die miteinander türkisch sprechen, an uns vorbei ins Sprechzimmer.
Eine Weile sagen wir nichts und warten, dass alles besser wird - bei der jugoslawisch Sprechenden die Übelkeit und bei mir das Taubheitsgefühl im Mund.
Da kommt die junge Frau, die vorher türkisch mit der älteren sprach, aus dem Sprechzimmer und setzt sich unruhig zwischen uns. "Sagen Sie, ist es schlimm? Ich muss das auch gleich machen lassen. Hatten Sie eine komplette oder nur eine lokale Betäubung?" Die Begleiterin der Frau mit Übelkeit deutet auf ihre Bekannte: "Sie hatte eine komplette Betäubung." Ich denke, beruhigende Worte sind angesagt, und sage, dass bei mir das betäubte Gefühl im Mund das Unangenehmste der ganzen Prozedur sei. "Ja, was soll ich denn nun machen", stöhnt sie, während im Hintergrund ein Würgen zu hören ist.
Schon bald geht die Sprechzimmertür auf. "Ihre Mutter war tapfer", meint der Doktor zur jungen türkischen Frau und verschwindet mit ihr.
Kurz darauf kommt die Mutter zu uns auf den Flur. "Tamam?", fragt die jugoslawisch Sprechende auf Türkisch. Alles okay? Die Frau nickt. Wir reichen ihr ein Taschentuch, damit sie spucken kann. Im Hintergrund würgt es. Wir nicken uns wissend zu.
Bald taucht die Tochter der türkischen Frau wieder auf. "Wars schlimm?", fragen wir. "Geht so." Ich sage: "Bei mir lässt die Betäubung nach", um Optimismus zu verbreiten.
Jetzt geht eine dunkelhäutige Frau an uns vorbei und verschwindet im Sprechzimmer. Als sie sich ein paar Minuten später, noch wacklig auf den Beinen, zu uns gesellt, fragen die Begleiterin der Frau mit Übelkeit, die junge türkisch Sprechende und ich wie aus einem Mund: "Wars schlimm?" - "Schlimmer, als ich es mir in meinen Albträumen vorgestellt habe", antwortet sie. Wir nehmen sie auf in den Kreis. "Beim Magenspiegeln gehts allen gleich", sagt die Begleiterin der Frau mit Übelkeit freundlich und deutet auf uns. Vor dem Sprechzimmer des Bauchspieglers findet Kulturkampf nicht statt.
Am Ende aber vergesse ich, den Arzt zu fragen, ob er einen Zwillingsbruder hat oder nicht.
Waltraud Schwab
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