piwik no script img

Innerste SicherheitAngst ohne Crime

■ Vortrag über urbane Verunsicherung jenseits von krimineller Bedrohung

Ist es eine unerlaubte Nutzung des öffentlichen Raums, wenn ein Bettler seinen Hut vor sich auf die Straße stellt? Im heimischen Hamburg stieß diese Rechtsauffassung dem Sozialwissenschaftler Aldo Legnaro übel auf. In Bremen war er angenehm überrascht, wie viel abweichendes Verhalten im öffentlichen Raum geduldet wird. Zu Beginn der Vortragsreihe „safety first“ malte Legnaro im Schlachthof ein „worst case“-Szenario“: Am Beispiel von Los Angeles stellte er dar, wie in der neoliberalen Stadt Verunsicherung entsteht, als Angst vor Kriminalität kanalisiert wird und schließlich durch ein weitgehend privatisiertes Sicherheitswesen aufgefangen wird.

Ebenso wie in Bremen traten in L. A. an die Stelle der Schwerindustrie neue Branchen, mit „McJob“-Arbeitsbedingungen. Dem fügen sich die ArbeitnehmerInnen nur unter hohem Konkurrenzdruck aus dem In- und Ausland. Die Folge ist tiefe Verunsicherung: Die Mittelschicht lebt in der permanenten Angst vor dem sozialen Absturz. Anders die zahlungskräftigen Gewinner der „Multioptionsgesellschaft“: Um ihre Gunst konkurrieren die Städte sogar mit „architektonisch singulären“ Großprojekten wie dem Space-Park. Die Folge ist die Aufwertung von Stadtvierteln und die Vertreibung der Einwohnerschaft.

Unter dem Stichwort „Zentralisierung der Peripherie“ beobachtet Legnaro, dass die Metropolen Lebensbedingungen aus der Dritten Welt „importieren“, statt die eigenen zu exportieren. Die Tendenz geht dabei zur Segregation: Es entstehen immer mehr Ghettos, die in sich weitgehend sozial homogen sind. Im Extrem werden die Ghettos der Reichen so genannte „gated communities“ – umzäunte Stadtviertel, in die man nur noch mit Passierschein kommt. Wer nicht dazugehört, wird wie im 19. Jahrhundert als „gefährliche Klasse“ stigmatisiert.

Die aus diesen Prozessen entstandenen Verunsicherungen plagen die StadtbewohnerInnen derzeit weitaus mehr als die konkrete Angst vor Kriminalität, fand Legnaro in seiner Forschungsarbeit heraus. Erst der „Schrei nach Sicherheit“ im politischen Diskurs lenke Statusängste auf Angst vor Kriminalität um. Die wird dann von Instanzen bekämpft, die immer weniger im Verantwortungsbereich des Staates liegen.

Das Publikum konnte Legnaros düstere Vision nicht in allen Punkten nachvollziehen. Fragen nach der Vergleichbarkeit des ungebremsten Kapitalismus und der „traditionslosen“ Städte in den USA mit europäischen Verhältnissen kamen auf. Zu Recht, räumte Legnaro ein, der immer noch einen gewissen politischen Handlungsspielraum sieht, eine Entwicklung nach US-Muster zu verhindern. In Bremen fand er erstaunt einen ersten Anhaltspunkt vor: Eine neu eingerichtete „Trinkerwiese“ direkt vor dem Hauptbahnhof – so was könnte er sich in Hamburg nicht vorstellen. Er weiß nicht, dass der Innensenator Bernt Schulte (CDU) das Rasenstück für seinen einzigen Fehler im Amt des Bausenators hält ... jank

Morgen (20 Uhr, Schlachthof) stellt safety first das Web-Projekt www.aktuelle-kamera.org vor; am 28. 9. (20 Uhr) referiert Detlev Ipsen über „Die sozialräumlichen Bedingungen der offenen Stadt“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen