■ Innenansicht einer fremden und seltsamen Welt: Paranoia-Party
Vom ersten Tag an hatte man es auf sie abgesehen, da ist sie sich sicher. Das glaubt sie nicht, sie weiß es. Nachts wurde gegen ihre Tür gehämmert. Einmal hat man sie verprügelt. Das Schlimmste aber war, als die von den Verfolgern bestochene Polizei in ihre Wohnung eindrang und den abgeplatzten Lack am Heizkörper protokollierte. Das Gefühl, penetriert zu werden, hat Frau S. seitdem nicht verlassen.
Frau S. weiß, sie soll fertiggemacht werden. Die zwanzig Jahre, die sie jetzt in F. lebt, sind ein einziger Vernichtungskrieg gewesen, in dem sich der Gegner alles erlaubte, ihr selbst aber noch das Recht nehmen wollte, sich zu verteidigen. Eigentlich möchte Frau S. ausziehen.
Aber: Wenn sie geht, glaubt der Gegner, sie hätte kapituliert. Außerdem weiß sie nicht wohin. Schon damals, als sie noch zu Hause wohnte, wurde sie verfolgt. Der Umzug nach F. hat nichts gebracht: Auch die Verfolger sind umgezogen. Sie sehen nur anders aus als in ihrer Heimatstadt. Weil sie sich verkleidet haben. Aber es sind immer dieselben, da hat Frau S. keinen Zweifel.
Die Vorhänge vor dem einzigen Fenster sind seit ihrem Einzug zugezogen. Durch einen Spalt beobachtet sie die Vorgänge vor dem Haus. Sieht sie einen Streifenwagen in der Nähe, verhält sie sich ruhig, damit man sie nicht findet.
Nachts sitzt sie im Dunkeln und lauscht auf die Geräusche im Hausflur. Sie muß auf der Hut sein. Hört sie die Fahrstuhltür, schaltet sie ihr Radio aus. Sie wird man nicht erwischen. Das Auge an den Spion gepreßt, freut sie sich diebisch, daß die Bedroher wieder einmal unverrichteter Dinge abziehen müssen.
Auf Klingeln öffnet Frau S. prinzipiell nicht. Daß sie keine Briefe bekommt, wundert sie nicht: Man stiehlt ihr die Post. Liegt doch einmal ein Brief im Kasten, kann es nur eine neue Gemeinheit ihrer Peiniger sein. Eingeschriebene Abmahnungen der Hausverwaltung holt sie nicht ab. Daß sie die andern störe, ist der Gipfel der Perfidie. Das Gegenteil ist richtig. Sie selbst will nichts als ihre Ruhe.
Das mit der überlauten Radiomusik, die angeblich nach 22 Uhr aus ihrer Wohnung dringt, ist auch wieder eine Erfindung ihrer Peiniger. Aber Frau S. läßt sich nichts mehr gefallen. Seit sie begriffen hat, daß das „Pack“ sich abends nur wäscht, um sie mit dem Geräusch laufenden Wassers zu quälen, dreht auch sie alle verfügbaren Hähne auf.
Mit der Musik ist es dasselbe. In Wahrheit drehen die anderen ihre Geräte auf volle Lautstärke, um sie am Schlafen zu hindern: mitten in der Nacht. Protestiert sie dagegen, zum Beispiel, indem sie mit dem Schraubenzieher gegen die Heizung schlägt, klopfen die Verfolger höhnisch zurück. In manchen Nächten klingt es, als würden sich Knastbrüder Botschaften zumorsen.
Kinder hat Frau S. keine. Sie haßt diese kleinen Teufel, die so unschuldig tun, in Wahrheit aber nur eines im Sinn haben: sie zu quälen. Eine Zeitlang führte sie kurze Attacken gegen die Plagegeister aus. Zum Beispel, wenn sie im Aufzug mit ihnen zusammentraf. Damals trug Frau S. immer eine Stopfnadel mit sich. Kleine Angriffe damit, zum Beispiel im Aufzug, waren im Prinzip nicht nachzuweisen, wenn der Stoß präzise und rasch genug ausgeführt wurde. Als ein von den Verfolgern gedungener Psychiater auf ihrer Etage einzog und mit Einweisung in die geschlossene Abteilung drohte, mußte sie auch das aufgeben.
Seither benutzt Frau S. fast nur noch die Treppe. Dort bleibt sie ungesehen. Trotzdem lockt der Aufzug. Bisweilen wagt sie eine Fahrt. Muß sie im Erdgeschoß warten, führt sie tänzelnde Schrittfolgen aus, wobei sie sich ständig um die eigene Achse dreht. Ins Haus kommende Verfolger kann sie auf diese Weise sofort registrieren und ihren Plan ändern: Sie verläßt den Wartebereich im Foyer und nimmt den sicheren Weg durchs Treppenhaus.
Kaum nachvollziehbar sind auch die Qualen, die Frau S. leidet, wenn sie an der Kasse des Supermarktes gezwungen ist, in der Schlange zu warten. Deshalb hat sie ihren Nahrungsbedarf auf ein Minimum beschränkt. Um unerläßliche Einkäufe zu tätigen, nutzt sie die ruhigen Mittagsstunden. Meist kauft sie nur eine Dose coffeinhaltige Limonade. So kann sie den Laden schnell verlassen. Frau S. ernährt sich vorwiegend flüssig.
Neulich hat man ihr die Sicherungen herausgedreht, um sie daran zu hindern, mit Antischall gegen die allnächtliche Musikbelästigung zu protestieren. Sie hat sich gerächt, indem sie ihrerseits dem „Pack“ alle Sicherungen herausgedreht und fortgeworfen hat. Wenn sie sich die abgetauten Gefrierschränke mit den vielen verdorbenen Nahrungsmitteln vorstellt, durchzuckt sie für Augenblicke ein Gefühl der Genugtuung. Auge um Auge.
Neuerdings stellt sie die geleerten Dosen im Halbkreis vor ihrer Wohnungstür auf, damit die Verfolger bei ihren nächtlichen Angriffen darüber stolpern.
Frau S. lebt anspruchslos. Neue Kleidung braucht sie so gut wie nicht. Auch kann schon der Kauf eines Pullovers zur Tortur geraten. Meist begnügt sie sich deshalb damit, einen schnellen Blick in die Auslagen zu werfen. Allzu lange darf sie jedoch nicht stehenbleiben. Entdeckt sie unter den Passanten einen Beschatter aus ihrem Haus, nimmt sie die Straßenbahn, fährt aber nicht nach Hause, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Nach zwei Stationen steigt sie dann ungesehen aus und läuft auf Umwegen heim. Der Rückweg dauert so zwar manchmal drei Stunden. Aber dafür ist sie ihnen wieder einmal entwischt.Gerhard Schmitz
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