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Innen und Außen

■ Physiognomik im Film und anderswo

Ich merke einem Film nicht an, wie er hergestellt wurde. Ich sehe nur das Produkt, sehe nicht die Teile, aus denen es sich zusammensetzt. Mit anderen Worten: Ich bin ein unkritischer Zuschauer. Sicher, kleine Schritte zur genaueren Wahrnehmung mach auch ich. Zuerst war mir die Filmmusik aufgefallen. Seitdem muß ich meist lachen, wenn zehn Geigen sich anstrengen, Intimität zu erzeugen. Ich sehe sie ackern, die Damen und Herren in dem kleinen Studio. Nach 30 Jahren Kinogeherei ist mir nur sehr wenig von meiner Naivität - weniger freundlich, aber korrekter: Dummheit genommen worden.

Langsam beginne ich auch zu entdecken, wieviele Kameras verwendet, wieviel Kräne in Bewegung gesetzt werden. Aber nie wäre ich auf die Idee gekommen, daß Mike Leigh, dessen kritischer Film aus dem London der Maggie Thatcher hier sehr gut ankam, 15 Wochen lang mit den Schauspielern am Drehbuch gearbeitet hat, bevor er mit den Aufnahmen zu „High Hopes“ begann. Ich fand, er hätte den Film ebenso gut in 14 Tagen drehen können. So wichtig es gewesen wäre, ich hätte Mike Leigh weiter zugehört - schließlich hätte ich nur lernen können davon - aber ich konnte mich nicht mehr auf seine Erläuterungen konzentrieren.

Rechts vor mir hatte eine Frau Platz genommen. Ich beobachtete sie so intensiv, daß ich so gar nichts sagen kann über den anschließenden Auftritt von Ornella Muti auf der Pressekonferenz zu Francesco Masellis Beitrag „Personal Code“. Ich betrachtete nur die zierliche, etwa dreißig Jahre alte Blondine. Ein enges Kleid, das in einer schulterfreien Korsage endet. Inmitten der 250 Schattierungen - zwischen Piz Buin und Nivea - sonnengebräunter Haut, ein empfindliches cremiges Weiß. Ihr Gesicht: alles in ihm zielt nach oben. Vom leicht gebogenen Kinn, über die vor der spitzen Oberlippe in die Höhe fliehenden Nase bis zum Aufschlag der Lider. Selbst die rautenförmig geschnittenen Höhlen lassen die Augen nach oben rollen. Doch dann die Brauen: zwei dicke Striche, die dem Aufwärtstrend ein Ende machen, als müßten sie die glatte Stirn schützen vor den Angriffen aus den tiefer gelegenen Etagen. Ich mag das manirierte, pikante dieses hochmütigen Gesichts, aber ich weiß, es wäre eine Dummheit, vom Äußeren aufs Innere zu schließen.

Warum tun wir es, wenn wir von Filmen sprechen? Nur weil wir keine andere Wahl haben?

a.w.

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