Inklusion in Hamburg: Sebastian hat keine richtige Schule
Hamburgs Schulbehörde möchte einen autistischen Jungen auf eine Stadtteilschule schicken. Dagegen wehren sich die Eltern. Auch sein Arzt warnt davor.
HAMBURG taz | Sebastian unterbricht sein Computerspiel, als der Fotograf kommt. Auf dem Wohnzimmertisch liegen Ordner mit Prozessunterlagen. Sebastian war vormittags in seinem Zimmer im elterlichen Reihenhaus in Hamburg-Allermöhe. Er ist krankgeschrieben. Geht es nach der Schulbehörde, so soll ihn täglich eine Sonderpädagogin zur Stadtteilschule Lohbrügge bringen. Dort soll er Einzelunterricht erhalten und eigene Pausen haben. Sogar vom Unterricht in einer Art Wahlkabine war die Rede.
„Unser Kind würde das nicht schaffen“, sagt Mutter Melanie R. „Er wäre dort ein Sonderling und würde von allen Mitschülern beäugt.“ Diese Erfahrung habe der Junge an seiner alten Stadtteilschule gemacht. Vor einem Jahr eskalierte dort die Situation. „Schließlich war geplant, dass jeder in der Klasse Sebastian eine ’blaue Karte‘ zeigt, wenn er sich falsch verhält“, sagt die Mutter. „Er kam unter enormen Druck und hat nachts mit Erbrechen und Bauchschmerzen reagiert“.
Der Junge hat Asberger-Autismus. Ihrem Sohn falle es schwer, soziale Kontakte zu halten, berichtet die Mutter. Er reagiere empfindlich auf Geräusche und Gerüche, nehme vieles wörtlich, was nicht so gemeint sei. Der Unterricht an der Stadtteilschule sei „zu sehr durcheinander“ gewesen. Auch hab es dort viele andere Kinder mit Störungen gegeben.
Der Junge wurde immer häufiger krank, die Eltern waren in Sorge, dass dies chronisch wird. Schließlich schlug eine Pädagogin vom „Haus- und Krankenhausunterricht“ (HUK) vor, Sebastian könne doch die Autisten-Klasse am Brahms-Gymnasium Bramfeld besuchen. Das ist eine ganz besondere Klasse, in der damals sieben Schüler von fünf Pädagogen und Heiltherapeuten betreut wurden, aber teilweise auch am allgemeinen Fachunterricht teilnahmen.
Insgesamt 246 Schüler mit dem Förderschwerpunkt Autismus gab es 2013/14 an Hamburgs Schulen.
Zwei besuchten eine Vorschulklasse, 89 eine Grundschule, 110 eine Stadtteilschule, 41 ein Gymnasium und vier eine spezielle Sonderschule.
Die Autisten-Klasse am Brahms-Gymnasium startete im Sommer 2010 mit sechs Schülern.
Laut Schulbehörde hatten alle Teilnehmer eine Gymnasialempfehlung. Die Schüler sollen sukzessive am Fachunterricht der Schule teilnehmen. Die ersten Schüler hätten den Haupt- und Realschulabschluss erworben. Ein Schüler arbeite in der Oberstufe, für die er vier Jahre Zeit hat.
„Sebastian war dort am 5. Februar einen Tag zur Probe und fand das toll“, erinnert sich Melanie R. Dort sei er aufgeblüht. In nur zwei Monaten habe er einen dicken Ordner durchgearbeitet. „Soviel schaffte er an der alten Schule nicht in einem Jahr“, sagt sie. Auch seien die Beschwerden weggegangen. Die Klasse sei für Sebastian wie Therapie gewesen.
„Die Fachkräfte dort kennen sich mit Autisten aus“, ergänzt Vater Sven R. Die Räume seien übersichtlich gestaltet. Neben einem Gruppentisch habe jeder Schüler seinen Einzelplatz.
Doch Mitte April musste Sebastian diese Klasse verlassen. Obwohl Schulbeamte den R.s versicherten, dass die Autistenklasse für den Jungen pädagogisch sinnvoll ist. Auf oberster Ebene wurde dieser Schulwechsel nie genehmigt.
Der taz liegen dazu die Gerichts-Beschlüsse vom März vor. Der Junge sei der Autisten-Klasse nicht zugewiesen worden, heißt es dort. Daran ändere auch nichts, wenn einzelne Abteilungen der Behörde diesem Wechsel zustimmten. Denn dieser Wechsel bedeute gleichzeitig einen Wechsel ans Gymnasium und dafür seien Sebastians frühere Noten zu schlecht.
Nebenher wurde bei diesen Verfahren auch noch der Antrag der Eltern auf Schulweghilfe verhandelt. Die Eltern sahen sich nicht dauerhaft in der Lage, ihr Kind die 24 Kilometer weite Strecke zu fahren und beantragten Hilfe. Die Behörde wies vor Gericht auf die hohen Kosten für Sebastians Beförderung hin, auf welche dieser als zu 50 Prozent Behinderter einen Anspruch hat. Über die Schulwegkosten zu entscheiden sei ja nicht mehr nötig, teilte das Gericht lakonisch mit.
Aber Sebastians Problem ist nicht gelöst. Am 17. April geht er für einen Tag in die Stadtteilschule Lohbrügge. „Er war jede Stunde mit einem anderen Lehrer allein und in den Pausen sogar ganz allein“, berichtet die Mutter. In der Nacht habe er wieder mit Bauchschmerzen und Erbrechen reagiert.
Seit Mai erhält der Junge nur noch stundenweise Einzelunterricht an einem Regionalen Beratungszentrum in Bergedorf. „Das bringt nichts“, sagt Mutter Melanie R. „Wir haben bisher keinen einzigen Leistungsnachweis gesehen.“ Sebastian sei sozial isoliert. Auch mache er sich Sorgen, dass er keinen Abschluss schafft. „Ich will in die Autistenklasse“, sagt er selbst. Etwas anderes kann er sich nicht vorstellen.
Der Kinderarzt ließ einen Test durchführen. Der Junge hat ein „uneinheitliches Leistungsprofil“: Schwächen im Sprachverständnis, durchschnittliche Werte beim logischen Denken. In Chemie, erinnert sich die Mutter, schrieb er mal eine eins. Im Mündlichen aber war er nicht gut. Auch habe er an der Stadtteilschule nicht immer am Fachunterricht teilnehmen dürfen.
Die Beschulung zu Hause habe die Defizite noch verstärkt, warnt der Arzt. Er bitte eine „Einzelfallentscheidung“ zu treffen, die dem Jungen die Bildungsmöglichkeit in einer Autistenklasse ermöglicht und eine Kindeswohlgefährdung abwendet.
Nächste Woche sprechen die Eltern wieder mit der Schulbehörde. Ein Besuch der Autisten-Klasse sei nach dem Urteil nicht zu machen, heißt es dort.
Die Grüne Stefanie von Berg kennt weitere Familien, in denen die Behörde keine guten Lösungen fand. „Es müssten bewährte Konzepte in die Fläche gehen“, findet sie. Zudem sei das Gesetz inkonsequent. Das Recht auf Inklusion müsse auch an Gymnasien greifen.
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